Als Frederike plötzlich nicht mehr sprechen konnte

18.1.2018, 08:00 Uhr
Als Frederike plötzlich nicht mehr sprechen konnte

© Ralf Rödel

"Mama", "Papa", "Banane", "Brille" und, warum auch immer, "Männer": Karin Gotha kann sie noch immer aufzählen, die ersten Wörter, die ihre Tochter Frederike damals, mit 18 Monaten, vor sich hin brabbelte wie andere Kinder in diesem Alter auch. Sie weiß auch noch genau, wann das Mädchen zum ersten Mal allein gelaufen ist: Es war der 1. Januar 2010. Das Datum hat sich jedoch aus einem anderen Grund in das Gedächtnis der Mutter eingebrannt. Es war nämlich auch der Tag, an dem Frederike verstummte, der Tag, an dem den Eltern klarwurde, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Hilfe rund um die Uhr

"Bis dahin waren wir eine ganz normale vierköpfige Familie", sagt Karin Gotha, und die Trauer darüber, dass dieser Satz so nicht mehr gilt, ist ihr manchmal anzumerken. Frederike ist mittlerweile neun Jahre alt und rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Sie kann nicht sprechen, nicht alleine essen und nur mit Mühe ein paar Treppenstufen alleine überwinden.

Längst gibt es auch einen Namen für das, was ihr fehlt: Frederike hat das Rett-Syndrom, eine seltene, genetisch bedingte Erkrankung, die fast nur bei Mädchen auftritt und unter anderem dazu führt, dass die betroffenen Kinder ihre Hände nicht richtig benutzen können. Häufig leiden sie auch unter Epilepsie, sie können kaum oder gar nicht sprechen und sind kognitiv beeinträchtigt. Zum ersten Mal wurde das Syndrom 1966 von dem Wiener Kinderarzt Andreas Rett diagnostiziert. In Deutschland kommen jährlich nur rund 50 Kinder mit diesem Gendefekt auf die Welt, bis zur Diagnose des Rett-Syndroms ist es deshalb meistens ein weiter Weg.

So auch bei Frederike, die sich zunächst — und das ist typisch für die Krankheit — völlig normal entwickelt hatte. "Sie war nur in vielem ein wenig langsamer als ihr drei Jahre älterer Bruder", sagt Karin Gotha. Doch Grund zur Sorge war das auch aus Sicht der Ärzte nicht. Selbst als sie verstummte, winkten die Mediziner zunächst ab — bis an Frederikes zweitem Geburtstag die nächste Vorsorgeuntersuchung anstand. "Da ging dann gar nichts", erinnert sich die Mutter. Bald darauf begann ein Untersuchungsmarathon, an dessen Ende nach mehreren Monaten die Diagnose des Gendefekts stand. Den Eltern wurde klar, dass ihre Tochter nie ein selbstständiges Leben würde führen können. "Da sind wir in ein schwarzes Loch gestürzt."

Beruf gibt Kraft

Zu sehen, wie das eigene Kind sich quasi rückwärts entwickelt und Fähigkeiten wieder verliert, die eigentlich schon da waren — das war für die Eltern eine immense Belastung. Anfangs wollte Karin Gotha sogar ihren Beruf aufgeben, um nur für ihre Tochter da zu sein. "Doch zum Glück haben die Ärzte mir davon abgeraten." Heute gibt der 43-Jährigen gerade die Arbeit als Grundschullehrerin den Halt, den sie als Mutter braucht. Was noch half, waren eine Selbsthilfegruppe und der Wunsch, Frederikes Bruder Felix dennoch ein möglichst normales Leben zu bieten. "Man muss ja weitermachen." Und das gelingt der Familie mittlerweile ganz gut — dank vieler Unterstützung durch Freunde und professionelle Betreuer und dank eines differenzierten Blicks auf das Rett-Syndrom.

Überall im Reihenhaus der Gothas kleben bunte Bilder auf eigens installierten Schaltern, die auf Knopfdruck sagen, was Frederike für Bedürfnisse hat — Hunger und Durst zum Beispiel, oder den Wunsch, in den Garten zu gehen. Noch genauer funktioniert das mit Hilfe eines speziellen Computers. Den kann die Neunjährige mit den Augen oder — an guten Tagen — mit den Händen steuern und zum Beispiel auch gezielt nach einer Breze fragen oder sich ihre Lieblingsbücher vorlesen lassen.

Gestützte Kommunikation nennt sich das Verfahren, es bestärkt die Eltern in dem Gefühl, dass ihre Tochter alles versteht, was andere sagen. Und es nährt die Hoffnung auf Heilung oder wenigstens Besserung, zumal auch die Forschung deutliche Fortschritte macht, wie Nils Gotha weiß. So experimentieren Wissenschaftler mit künstlichen Genen, die das defekte Gen ersetzen sollen, oder mit einer Proteinersatztherapie, mit der ein aufgrund des Defekts fehlendes Protein künstlich hergestellt wird.

Nur private Mittel

Erste Tierversuche seien vielversprechend, sagt Nils Gotha. "Doch das Problem ist, dass die Forschung komplett privat finanziert werden muss." Deutschlandweit werben deshalb betroffene Eltern um Spenden, auch Familie Gotha macht mit. Spendenläufe, Straßenfeste, Fußballturniere — bei diversen Veranstaltungen hat die Familie schon 13 000 Euro für die Forschung gesammelt.

Die Hoffnung, dass ihrer Tochter vielleicht doch noch geholfen werden kann, gibt Karin Gotha Kraft, wenn die Verzweiflung mal wieder größer ist. Dann etwa, wenn Frederike, wie so oft, in der Nacht 20 oder 30 Mal aufgewacht ist. Wenn andere Kinder unbeschwert auf der Straße herumtollen, während Frederike kaum einen Schritt alleine gehen kann. Wenn sie schreit, ohne dass die Eltern die Ursache kennen. Die Hoffnung, dass sich das ändern könnte, hilft.

Spendenkonto: Rett-Syndrom Deutschland e. V., Stichwort Frederikes Hoffnung, Hamburger Sparkasse, IBAN DE28 200 505 501 385 2727 27. www.FrederikesHoffnung.de

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