Das Schweigen ist manchmal schlimmer als der Tod

10.2.2016, 20:04 Uhr
Das Schweigen ist manchmal schlimmer als der Tod

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An diesen Tag im Mai vor acht Jahren kann sich Rosemarie Schlosser noch sehr genau erinnern. Damals feierte die Familie das Abitur ihres Enkels in einem Restaurant in St. Johannis. Ihre Tochter sei bei Tisch schon auffallend schweigsam gewesen, habe kaum geredet und sich nur wenig an den Gesprächen beteiligt, erzählt sie. Plötzlich sei sie aufgestanden und habe gesagt: „Ich muss jetzt gehen.“

Seither hat Rosemarie Schlosser nie mehr etwas von ihr gehört.

Die Tochter hat den Kontakt zur Mutter radikal abgebrochen. Seit damals gibt es keine Telefonate mehr; Päckchen an die Tochter kommen postwendend zurück. Mit dem Enkel spricht die 78-Jährige zwar immer wieder, er kommt sie auch in ihrer kleinen Wohnung im Nürnberger Norden besuchen. Aber zur Tochter sind alle Verbindungen abgerissen.

Warum? „Ich weiß es nicht“, sagt Rosemarie Schlosser (Name geändert). Früher seien sie ein „Traumpaar“ von Mutter und Tochter gewesen; vor 15 Jahren hat ihr die Tochter einmal einen „Traumbrief“ geschrieben. Als 22-Jährige hatte sie noch gesagt: „Mama, du warst die beste Mutter der Welt. Nur manchmal zu tolerant.“ Rosemarie Schlosser denkt viel an die Zeiten zurück, in denen es zwischen ihnen noch gestimmt zu haben schien. In ihrem Wohnzimmer steht ein Regal mit lauter Familienbildern, an der Wand hängt ein Ölgemälde, das die Tochter als junge Frau zeigt. Nach außen hin ist es eine heile Familienwelt.

„Ich habe nicht den Eindruck, dass bei uns fundamental etwas schiefgelaufen ist“, sagt die Mutter. Das Verhältnis beschreibt sie als „mal so, mal so“. Ganz normal eigentlich. „Es gab keinen Streit.“

Rosemarie Schlosser hat ihre Tochter, wie sie selber sagt, „unter schwierigen Umständen“ bekommen. Denn eigentlich, so hatten ihr die Ärzte gesagt, könne sie nicht schwanger werden. Daher hatten Schlosser und ihr damaliger Mann bereits einen Sohn adoptiert, bevor ganz überraschend doch noch die Tochter zur Welt kam. Später, nach der Trennung von ihrem Mann, zog sie beide Kinder alleine groß. Materiell ging es ihnen ordentlich; das Geschäft lief so gut, dass sich die kleine Familie eine Eigentumswohnung kaufen und die Mutter ihrer Tochter zum 18. Geburtstag ein Auto schenken konnte.

Die guten Zeiten waren Anfang der 2000er Jahre vorbei, als Rosemarie Schlossers Geschäft pleiteging. Die Eigentumswohnung musste verkauft werden, und die frühere Geschäftsfrau hielt sich mit allen möglichen Arbeiten über Wasser. Nebenher begann sie, Bücher zu schreiben; Gedichte und Humorvolles, aber auch die Erlebnisse rund um den Geschäftsniedergang. Als sie ihrer Tochter voller Stolz das erste eigene Buch zeigte, reagierte diese wütend: „Alles, was ich machen will, machst du!“, habe sie geschrien. Es ist die einzige Szene, an die sich Rosemarie Schlosser erinnert, in der sich der spätere Bruch womöglich abgezeichnet hatte.

Als klug und sehr belesen beschreibt die 78-Jährige ihre Tochter. „Sie kann wunderbar singen“, sagt sie. „Aber sie hat nie was daraus gemacht.“ „Ihre Freunde würden sagen, sie ist ein liebenswürdiger Mensch. Aber mir gegenüber hat sie ein Herz aus Stein.“

Die Tochter, wenn sie sich denn hier äußern könnte, würde das Verhältnis und die Vorgeschichte, die dem endgültigen Bruch voranging, vermutlich ganz anders schildern – das liegt in der Natur der Sache. Wenn erwachsene Kinder mit ihren Eltern keinen Kontakt mehr haben möchten, dann sehen sie keinen anderen Weg, um mit Enttäuschungen, Anfechtungen oder den Erwartungen der Eltern klarzukommen.

Rosemarie Schlosser schämt sich für die Situation. Wenn sich das eigene Kind abwendet, dann bedeutet das für viele Eltern das maximale Scheitern in dieser Rolle. Sie erzählt nur wenigen Menschen vom Schweigen der Tochter. Die 78-Jährige möchte deshalb auch nicht ihren wirklichen Namen in der Zeitung lesen. Ihr Schmerz, ihre Trauer gehen niemanden etwas an.

Aber sie möchte, dass ihre Geschichte erzählt wird. Denn sie weiß, dass sie nicht alleine ist mit ihrer Situation: „Ich kenne zehn Frauen, denen es genauso geht“, sagt sie.

Verlässliche Zahlen darüber, wie häufig es zum radikalen Bruch kommt, gibt es nicht; nur wenige Betroffene offenbaren ihre Geschichte. Helga Kuplich-Schramm von der Zentralstelle der Selbsthilfegruppen „Verlassene Eltern“ in Ebermannstadt beobachtet aber eine „zunehmende Tendenz“. Die Zentralstelle hat derzeit bundesweit knapp 20 Selbsthilfegruppen gelistet, in denen sich die Eltern ihren Kummer von der Seele reden können.

Wie es in den Verlassenen aussieht, kennt Psychotherapeutin Edith Reich-Klenke aus zahlreichen Geschichten. Sie leitete vier Jahre lang eine Selbsthilfegruppe in Nürnberg. Sie ist selbst betroffen; ihr heute 45 Jahre alter Sohn, eines von drei Kindern, hat vor vier Jahren den Kontakt abgebrochen. Aus Erfahrung weiß sie, dass sich die meisten Kinder nach einem radikalen Bruch nicht mehr melden; und gleichzeitig hofft sie, wie die meisten verlassenen Eltern, dass ihr Sohn eines Tages doch wieder vor der Tür stehen möge. Nur zwei von 20 Eltern aus der Selbsthilfegruppe haben es erlebt, dass die Kinder noch einmal auf die Eltern zugegangen sind. „Aber die Beziehungen blieben brüchig“, sagt Reich-Klenke.

Es sind häufig gut behütete, liebevoll umsorgte Kinder, die sich im Erwachsenenalter von ihren Eltern abwenden. „Ich habe doch so viel getan“, heißt es vonseiten der Eltern dann oft, wenn sie gar nicht verstehen, was ihre Söhne oder Töchter dazu gebracht hat, alle Verbindungen zu kappen. „Da tappt man im Dunkeln“, sagt Reich-Klenke.

In der Selbsthilfegruppe hat sie mit den Teilnehmern oft die Bindungsgeschichte zwischen Erwachsenen und Kind durchgesprochen. Wenn die Kinder klein sind, dann idealisieren sie ihre Eltern. Doch „irgendwann schmeißen die Kinder die Eltern vom Podest“, sagt Reich-Klenke. Das geschehe meist in der Pubertät. Dann werden die Eltern als Versager empfunden, die Kinder verhalten sich feindselig und aggressiv. Aber auch die Eltern werden plötzlich mit Drogenkonsum und den ersten sexuellen Erfahrungen ihrer Kinder konfrontiert und wissen manchmal nicht, wie sie damit umgehen sollen.

Wenn es gut läuft, dann kommen beide Seiten in der nächsten Phase an einen Punkt, an dem sie wieder füreinander Verständnis aufbringen. Bei ihrem Sohn hat Reich-Klenke dagegen erlebt, dass er eine ganz andere Weltanschauung entwickelte, als sie es ihm vorgelebt hatte. „Plötzlich war da ein Punkt, wo man keine Brücke mehr findet.“ Ihr eigener Sohn war ihr fremd geworden.

Die Frage, warum sich die Kinder abwenden, bewegt alle verlassenen Eltern. „Ich glaube nicht, dass dies grundlos geschieht“, sagt Ursula Zeh von der Nürnberger Psychologischen Beratungsstelle im Erzbistum Bamberg. Doch manchmal könnten nicht einmal die Kinder selbst die Gründe in Worte fassen. Da spiele sich „relativ viel unbewusst“ ab. Das Gefühl, dass die Eltern von ihnen etwas erwarten, was sie nicht erfüllen möchten, kann Kinder dazu bringen, den Kontakt abzubrechen. Oder auch eine neue Partnerschaft, mit der die Eltern nicht einverstanden sind.

Für die Eltern ist der Bruch eine traumatische, sehr leidvolle Erfahrung. „Manche stürzt es in tiefste Depressionen“, sagt Zeh. Sie rät Betroffenen, sich auf jeden Fall Hilfe zu holen und etwas für sich zu tun, um das beschädigte Selbstwertgefühl wieder ein bisschen in Ordnung zu bringen. So komme man ein Stück heraus aus der Ohnmacht – das Gefühl, das noch schwerer zu ertragen sei als Schuld und Scham.

Mit dem Bruch leben zu lernen, das ist die vielleicht schwierigste Aufgabe, der sich die verlassenen Eltern stellen müssen. „Ich würde allen Eltern empfehlen, danach zu fragen, was in der Erziehung gelungen ist“, rät Ursula Zeh. Eigentlich machten die Kinder ja genau das, wozu sie erzogen wurden: Sie führen ein eigenständiges Leben. Dass darin die Eltern keinen Platz mehr haben sollen, ist freilich schmerzvoll und nur schwer zu akzeptieren.

„Keiner hat das Recht auf lebenslange Beziehungen“ und „es gibt keine Verpflichtung der Kinder den Eltern gegenüber“ – solche Erkenntnisse hat auch Edith Reich-Klenke in ihrer Selbsthilfegruppe oft besprochen. Doch die Gefühle sehen ganz anders aus. Die Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder irgendwann zurückkommen. Und sie fragen sich, ob diese genauso unter der Situation leiden wie sie selbst.

Auch Rosemarie Schlossers Gedanken kreisen ständig um die Tochter. Seit der ältere Sohn kürzlich gestorben ist, leidet sie noch mehr unter dem Kontaktabbruch als zuvor. Sie versucht, sich vom Schmerz abzulenken. Aber manchmal ist die Sehnsucht zu groß. Dann setzt sie sich ins Auto und fährt zum Haus der Tochter, um sie heimlich zu beobachten. Und dann fragt sie sich, was wohl in der Tochter vorgeht, wie sie sich fühlt.

Diese Ungewissheit treibt alle verlassenen Eltern um, weiß Edith Reich-Klenke: „Es ist manchmal schlimmer, ein Kind ans Leben zu verlieren als an den Tod.“

Die Kontakt- und Informationsstelle Selbsthilfegruppen in Mittelfranken (Kiss), www.kiss-mfr.de bietet eine neue Gruppe an, sofern sich genügend Betroffene finden. Telefon: 0911/2349449, E-Mail: nuernberg@kiss-mfr.de

Die Zentralstelle der Selbsthilfegruppen Verlassene Eltern (Consolare e. V.) in Ebermannstadt ist erreichbar unter 09194/72 58 69.

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