Das Sprühparadies in der Münchner Straße

7.3.2011, 18:01 Uhr
Das Sprühparadies in der Münchner Straße

Zumal viele noch nicht einmal den so genannten Tag beherrschen, also den schwungvollen Namenszug, sondern einfach nur ihren Namen hinschreiben, Acab beispielsweise, einen türkischen Vornamen. Offensichtlich ist es einigen türkischen Jugendlichen ein Bedürfnis, nur ja die Vorurteile zu verstärken und Öl in das von Sarrazin entfachte Feuer zu gießen.

Ärger schon vor 2000 Jahren

Graffiti und der Ärger darüber sind mehr als 2000 Jahre alt! In Pompeji fand man ein eingeritztes Graffiti an einer Hauswand: HIC HABITAT MINOTAURUS stand da, frei übersetzt: Hier haust ein Ungeheuer. Die Wut des „alten Römers“, der sein schönes Heim, aber auch seinen Ruf so besudelt sah, kann man sich lebhaft vorstellen.

Heute kostet die Beseitigung von Graffiti allein in Deutschland die unglaubliche Summe von 500 Millionen Euro: eine halbe Milliarde! Besonders schlimm ist Graffiti auf Sandstein, weil der porös ist und die Farbe aufsaugt. Sie dringt derartig tief ein, dass nur das Abtragen der äußeren Schicht hilft – aber beliebig oft kann man die nicht abtragen, sonst steht eines Tages die Stadtmauer nicht mehr. Und wer sein Eigenheim von einem Unbekannten verschandelt sieht, den er nicht zur Rechenschaft ziehen kann, der wünscht sich Verhältnisse wie in Singapur, wo letztes Jahr ein Sprayer zu Stockschlägen auf den nackten Hintern verurteilt wurde.

Verlassene Industrie-Ruinen

Und doch kann Graffiti Kunst sein, oder zumindest der Versuch dazu. Schöne Beispiele sieht man in der Münchner Straße 300. Das ist ein verlassenes Gelände der deutschen Bahn, wo noch Werkshallen und Industrieruinen stehen, an und in denen sich die Graffiteure austoben können. Graffiti ist rechtlich gesehen in 99 Prozent aller Fälle Sachbeschädigung – aber an Betonmauern, die ohnehin auf den Abriss warten, gibt es nichts mehr zu beschädigen. Sicherlich ist es trotzdem illegal, hier Farbe in gleich welcher Form aufzubringen, aber die Sprüher sähen die Polizei, wenn sie denn käme, schon von weitem. Wahrscheinlich würde außer ihnen kein Mensch die Werke sehen, wäre nicht der besondere Umstand, dass auf diesem gottverlassenen Gelände alle 14 Tage „Harrys Flohmarkt“ stattfindet. Viele Flohmarktbesucher haben eine Schwäche für Kitsch und Kunst – sonst wären sie nicht hier. Immer wieder reißen sie sich los vom Angebot der zahlreichen Stände – hier sind Antiquitäten meist viel billiger zu haben als auf dem Trempelmarkt –, schieben die Bauzäune zur Seite und schauen hinein in die alten dachlosen Hallen, ob sich hier was Neues getan hat. Und es tut sich ständig was – kaum hat man ein Graffiti fotografiert, ist es schon wieder übersprüht.

Es ist keine große Kunst, die man hier sieht. Die großen Sprühkünstler stellen in New Yorker Galerien aus. Aber es ist, wie gesagt, ein Schritt in Richtung Kunst. Und der ist pädagogisch gesehen gar nicht hoch genug zu bewerten. Die musische Erziehung in deutschen Schulen, da sind sich alle Pädagogen einig, kommt viel zu kurz. Die wenigen Waldorfschulen und musischen Gymnasien können da nicht viel ausrichten. Aber hier versuchen sich junge Menschen freiwillig im Gestalten!

Wer an der Wand mit den eingeschlagenen Fensterscheiben sprüht, übt sich nicht im Vandalismus, wie es der Schaltkastenverunzierer tut. Ihm genügt der „Tag“ nicht – es sei denn, der ist zwei bis drei Meter breit und wird in kunstvoll ineinander verschlungenen Buchstaben ausgeführt.

Jenseits des Akademischen

Das gesetzlose Graffiti gehorcht durchaus Gesetzen, ästhetischen nämlich, die der Uneingeweihte beim Betrachten nur erahnen kann. Ebenfalls nur erahnen lässt sich, dass mancher genau diese Gesetze brechen will, indem er nicht mit der Sprühdose arbeitet, sondern konventionell mit Farbeimer und Pinsel, was man erst beim zweiten Blick erkennt. Noch einmal sei es gesagt: Hier schaffen junge Menschen – ohne irgendwelchen Schaden anzurichten – das, wozu man sie anderswo erziehen will: Sie suchen ihren eigenen künstlerischen Ausdruck, ihre eigenen Formen. Wahrscheinlich besucht keiner von ihnen die Akademie der Bildenden Künste – obwohl er dort vielleicht mit Kusshand genommen würde!

Beim Fotografieren lernte ich eine Band kennen, ganz in schwarz gekleidet, also „Gothic“, die sich gerade von einem Profi mit Stativ vor dem verfallensten Gebäude ablichten ließ, „wegen der morbiden Atmosphäre“, für das Cover ihrer ersten CD. Und auf der sollte nicht etwa Heavy Metal zu hören sein, sondern „Dark Folk“ mit elektronischen Klangschleiern, Wie klingt „Dark Folk“, fragte ich mich und gab den Namen der Band bei Google ein. Aber zum Stichwort „Malpertuis“ war nur zu erfahren, dass dies ein in den siebziger Jahren verfilmter schwarzromantischer Schauerroman sei. Ganz offensichtlich lehnt diese Band jegliche Kommerzialisierung ab – gerade so wie die Künstler, vor deren Werken sie posierte.

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