"Die Schulorganisation wird zum Abenteuer"

20.4.2016, 20:14 Uhr

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Die CSU-Fraktion im bayerischen Landtag hat sich lange dagegen gewehrt: Nun aber hat Horst Seehofer wohl quasi einen Meinungsumschwung angeordnet. Das G 9 steht wieder ganz oben auf der Agenda. Während auf politischer Ebene schier unaufhörlich diskutiert wird, sind 47 bayerische Gymnasien mit dem Projekt Mittelstufe Plus beschäftigt, das ihnen die Regierung zu Beginn des letzten Schuljahrs angetragen hat. So viel lässt sich jetzt schon sagen: Die beteiligten Schulen, die Teilnahme ist freiwillig, kommen klar. Der organisatorische Aufwand, den sie zu bewältigen haben, ist allerdings enorm.

Mit zwei Mittelstufe-Plus-Klassen ist das Pirckheimer-Gymnasium in die Pilotphase gestartet. Die Erfahrung bislang: „Der Unterricht läuft gut“, sagt Elke Hermann, die stellvertretende Schuldirektorin, die das Projekt leitet. „Ich persönlich finde den Unterricht in der Mittelstufe Plus sehr angenehm. Im Deutschunterricht genieße ich es, dass wir mehr Zeit für Schwerpunkte haben und uns besser darauf konzentrieren können. Das ist eigentlich der größte Gewinn, den ich an dem Modell sehe.“ Ähnliche Erfahrungen machten auch die Kollegen, die Mathematik lehrten. „Der Unterricht ist nicht langsamer, aber er ist intensiver.“

Wie berichtet, haben die Kinder, die die Mittelstufe Plus besuchen, ein Jahr mehr Zeit, den Stoff zu bewältigen als ihre Mitschüler, die das klassische G 8 durchlaufen. Das System räumt vor allem den Hauptfächern mehr Platz ein, bietet Zeit zur Vertiefung und Wiederholung.

Für die Schulorganisation, so Elke Hermann, bedeute die Mittelstufe Plus allerdings eine große Herausforderung. Und die werde von Jahr zu Jahr größer. „Je mehr Klassen wir bekommen, desto mehr unterschiedliche Konzepte gibt es. So wird die ganze Organisation allmählich zum Abenteuer.“ In der Frage, ob das Projekt letztlich zum Standardangebot werden sollte, mag sie sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festlegen. „Ich bin noch sehr unentschieden.“ Was sie allerdings für wenig sinnvoll hält: Die Entscheidung, welches System sie anbietet, der Schule selbst zu überlassen. Auch diese Variante ist derzeit auf politischer Ebene im Gespräch.

Karl-Heinz Bruckner leitet das Neue Gymnasium Nürnberg (NGN) und sitzt zudem der Vereinigung der bayerischen Gymnasialdirektoren vor. Sein Interesse an dem Pilotprojekt Mittelstufe Plus war von Anfang an groß, deshalb hat er sich mit seiner Schule um eine Teilnahme beworben. 27 Kinder wurden am NGN für das Projekt angemeldet – genau die richtige Zahl, um eine eigenständige Klasse zu bilden.

Nun aber steht Bruckner vor einem Problem: Während das Interesse an der Mittelstufe Plus am Pirckheimer-Gymnasium etwas zurückgegangen ist, legte die Nachfrage am NGN zu: 63 Familien möchten ihrem Kind ein Jahr mehr Schulzeit gönnen. „Wir müssten also zwei zusätzliche Klassen einrichten, eine mit 31 Kindern, eine mit 32. Das kann ich aber aufgrund der Budgetierung nicht. Ich darf insgesamt nur vier Klassen bilden, bräuchte aber eine fünfte.“ Jetzt steht der Schuldirektor vor der Situation, die Kritiker schon im Vorfeld kommen sahen: „Ich muss Kinder abweisen.“ Bruckner ist darüber alles andere als glücklich.

Nürnbergs Schulbürgermeister Klemens Gsell wundert sich ein bisschen darüber, dass über das Schicksal der Mittelstufe Plus schon jetzt so heftig diskutiert wird, wo die Probephase noch nicht einmal Halbzeit hat. „Man kann doch jetzt noch gar keine Ergebnisse erwarten.“ Er erlaube sich derzeit noch keine abschließende Meinung, sagt Gsell. Sollte aber das G 9 in Bayern flächendeckend eingeführt werden, stünde Nürnberg vor einem enormen Problem: Die räumliche Kapazität reicht nämlich nicht. „Wir hätten am Ende einen ganzen zusätzlichen Jahrgang unterzubringen, der ungefähr 900 Schüler umfasst. Das entspricht dem Umfang eines ganzen Gymnasiums. Dabei sind wir jetzt schon platzmäßig am rotieren.“

Letztlich sei es möglich, beide Systeme, ob G 8 oder G 9, sinnvoll zu organisieren, glaubt Schulbürgermeister Gsell. Die Schwachstelle des G 8 ist aus seiner Sicht nicht die gymnasiale Mittelstufe, sondern die Unterstufe. „Hier müsste der Stoff entzerrt werden.“ Im Übrigen habe das Scheitern des Volksbegehrens 2014 eigentlich doch gezeigt, dass in der Bevölkerung wenig Interesse an einer Rückkehr zum G 9 vorhanden ist. Die Freien Wähler hatten damals mit ihrer Initiative, eine Wahlfreiheit zwischen G 8 und G 9 zu schaffen, die Zehn-Prozent-Hürde weit verfehlt.

Dem Leiter des NGN, Karl-Heinz Bruckner, ist vor allem eines wichtig: Dass endlich Ruhe einkehrt. Seit Münchens damaliger Oberbürgermeister Christian Ude als SPD-Spitzenkandidat im Landtagswahlkampf 2011 eine Rückkehr zum G 9 gefordert hat, dauere der Streit nun schon an. „Zur Befriedung der Situation hat bislang nichts beigetragen.“ Eines sei aber ganz klar: Doppelstrukturen lehne sein Verband, die bayerische Direktoren-Vereinigung, ab. „Was in Hessen praktiziert wird, ist Wahnsinn. Dort entscheidet jede Schule jedes Jahr aufs Neue, ob sie G 8 oder G 9 anbietet.“ Nach Bruckners Ansicht ist es Sache der Politik zu entscheiden, ob G 8 oder G 9. „Es muss jetzt eine Richtungsentscheidung geben. Sollte die Entscheidung für das G 9 fallen, muss die Umstellung in Ruhe vorbereitet werden“, betont Bruckner.

Einfach zum alten System zurückzukehren sei unmöglich. „Es sind dann viele Fragen zu klären, die nicht eben mal so schnell zu beantworten sind. Soll der Start der zweiten Fremdsprache in der 6. Klasse bleiben oder soll sie erst in der 7. eingeführt werden? Soll die Entscheidung für die Ausbildungsrichtung in der 8. oder in der 9. Klasse erfolgen? Soll es wieder Leistungskurse geben? Wie viele Stunden Unterricht sind sinnvoll?“

Ob G 8 oder G 9 – auch aus Sicht des NGN-Chefs sind beide Varianten gut machbar. „Dazu sind wir Profis genug.“ Im Vorgrund stünden immer die Schüler. „Ihnen sind wir verpflichtet.“

Was die Mittelstufe Plus angeht, so Bruckner, seien die Erwartungen zum Teil vielleicht etwas zu hoch gewesen. „Die Entlastung wirkt sich nicht von heute auf morgen aus. Aus einem mittelmäßigen Schüler wird auch in der Mittelstufe Plus nicht gleich ein guter Schüler.“ Im Übrigen, fügt Bruckner hinzu, besuchten auch sehr gute Schüler die Mittelstufe Plus.

Bernd Zinkel, der Vorsitzende des Nürnberger Elternverbands (NEV), macht aus seiner Kritik am G 8 keinen Hehl. „Ich habe diese Ad-Hoc-Umstellung von Anfang an nicht nachvollziehen können.“ Ein längeres Lernen sei in jedem Fall besser, das sei auch die Haltung des Elternverbands. „Die Schüler kommen teilweise mit 17 Jahren an die Universität. Das ist viel zu früh. Sie brauchen Zeit zu reifen und Erfahrungen zu sammeln.“

Wie Bürgermeister Gsell sehen auch die Elternvertreter ein massives Raumproblem auf die Stadt zukommen, sollte das neunstufige Gymnasium wieder eingeführt werden. „Vor dieser Schwierigkeit werden alle Ballungszentren stehen“, sagt Zinkel. „Nürnberg könnte das nicht stemmen. Die Stadt bräuchte letztlich sogar zwei neue Gymnasien.“ Der NEV habe in dieser Frage bereits ein Schreiben an das Kultusministerium auf den Weg gebracht, um auf das Problem aufmerksam zu machen.

Über die Frage, wie viel Zeit Kinder zum Lernen brauchen, wird nicht nur in Bayern kontrovers diskutiert. Auch in anderen Bundesländern steht das Thema G 8 oder G 9 schon seit geraumer Zeit auf der Agenda ganz oben. In einer Umfrage in Nordrhein-Westfalen haben sich rund 80 Prozent der Familien für eine längere Schulzeit ausgesprochen. In Hessen haben die Gymnasien die Wahl, ob sie G 8 oder G 9 anbieten wollen. Dieses Modell will auch Baden-Württemberg einführen. In Rheinland-Pfalz wurde das G 9 erst gar nicht abgeschafft und Niedersachsen ist schon im vergangenen Jahr zum neunstufigen Gymnasium zurückgekehrt.

Ministerpräsident Seehofer kündigte derweil an, dass die Entscheidung über eine weitere Gymnasialreform in Bayern noch vor Ende der Mittelstufe-Plus-Testphase fallen werde. Es müsse schließlich Klarheit für die Eltern herrschen.

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