Die Wirklichkeit bleibt immer schemenhaft

1.6.2015, 12:26 Uhr
Die Wirklichkeit bleibt immer schemenhaft

© Foto: Michael Matejka

Der betont nüchterne Titel signalisiert, dass Cramer seine hiesige Präsentation nicht als ein Endgültiges und Absolutes, sondern als Teil eines weitaus umfassenderen und im ganz langfristigen Entstehen befindlichen Konzeptes verstanden wissen will.

Der Künstler versammelt in den Räumen des Kunstvereins Texte, Dokumente, Fundstücke, minimalistische Plastiken sowie Fotografien, die einerseits auf wissenschaftliche Ordnungs-Systeme verweisen, andererseits aber auch auf die Geheimnisse, welche private Erinnerungen und Souvenirs bergen.

Zwei Fotoarbeiten erzählen von einem 1860 gestarteten (und gescheiterten) Versuch, den gesamten Sternenhimmel zu katalogisieren. Ein in weißes Leinen gebundenes Buch auf einem weißen Sockel dokumentiert alle bekannten Einschläge von Meteoriten auf der Erdoberfläche. Fotos und Buch veranschaulichen die offensichtliche Hilflosigkeit solcher Versuche, universelle Vorgänge und überweltliche Zusammenhänge überschaubar, archivierbar und begreifbar zu machen.

Nach Cramers Auffassung begegnet der Mensch dem für ihn schmerz-lichen Bewusstwerden der uns umgebenden Grenzenlosigkeit mit der Hinwendung zum Kleinen und zum Intimen. Der Künstler zeigt uns zum Beispiel eine fotografierte Hochgebirgslandschaft aus dem Besitz seines Großvaters, die für den Enkel den Rang einer Ikone hat. Das Berg-Bildlein ist in seinen Augen ein Beweis von „Kontinuität“, ein Zeugnis vom „Bleibenden“ im Strom der Zeit. In die gleiche Richtung gedacht sind die in der Ausstellung verteilten Metall-Stäbe, welche die Körpergröße von Cramers Vater dokumentieren. Hier wird das Individuelle, das Menschliche zum Maß aller Dinge. Als quasi den Inbegriff jener ganz und gar nicht objektiven Art der Welt-Aneignung sieht der Künstler das Reisen. In einem in der Ausstellung ausliegenden Text berichtet er von einer konkreten Situation in einem an sich wenig spektakulären Ort in Italien. Erzählt wird detailliert von allerlei Sinnes-Eindrücken, von mittelmeerischer Landschaft und mediterranem Essen und Trinken, von den am Strand gesammelten Steinen und von der Unmöglichkeit des Begreifens und vom Fragmentarischen der Erinnerung.

Bergwelt als Mythos

Großvaters idyllische Bergwelt ist ein Mythos. Ein paar Schiefer- oder Granitbrocken müssen im Gehäuse des Nachfahren die hohen Berge ersetzen. Sie sind ebenso Überbleibsel, Schatten von Gesehenem und Empfundenem wie auch Cramers Schwarz-Weiß-Fotografien.

Mithilfe solcher konservierten, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissenen Augenblicke kann sich der Mensch allenfalls eine schemenhafte, verwaschene Vorstellung von der Wirklichkeit schaffen. All die verbleibenden Unschärfen, alle die nie wirklich zu schließenden weißen Flecken auf dem Weltbild bergen aber auch die Chance zu immer neuer Entfaltung von Fantasie und zur Pflege lustvoller Eigenbrötelei.

Albrecht-Dürer-Gesellschaft, Kunstverein Nürnberg, Kressengartenstr. 2: Daniel Gustav Cramer/Seventeen. Bis 9. August, Di.–Fr. 14–18, Sa./So. 13–18 Uhr.

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