Frisbee: Nürnberg, der Mittelpunkt der Scheibenwelt

6.6.2013, 11:07 Uhr
Frisbee: Nürnberg, der Mittelpunkt der Scheibenwelt

© Giulia Iannicelli

Man muss sich das mal vorstellen: Die besten Fußballer des Landes kommen nach Nürnberg, um herauszufinden, wer denn nun der allerbeste ist.

Alles läuft trotz komplizierter Rahmenbedingungen perfekt, der Wettstreit verläuft fair, die Leistungen sind hervorragend, Teilnehmer und Ausrichter zufrieden. Aber als am Tag danach begeisterte Kinder ihre Eltern bitten, ihnen doch dieses faszinierende Sportgerät zu besorgen, das alleine man dazu braucht, um Fußball zu spielen, da müssen die engagierten Eltern überrascht feststellen, dass es in Nürnberg überhaupt nur einen Laden gibt, in dem man einen solchen Fußball kaufen kann, allerdings selbst da nur ein Exemplar, mit dem international längst nicht mehr gespielt wird.

Gut, das ist ein bisschen billig, immer wieder diesen Vergleich mit dem Fußball zu bemühen, um darzustellen, wie es in weitgehend unbekannten Sportarten zugehen kann, die eben nicht Fußball sind. Wahrscheinlich ist es auch ungerecht, zumindest unlauter, weil Menschen, die sich Freestyle Frisbee widmen, nicht mit Fußballern verglichen werden sollen. Vielleicht aber lesen jetzt immer noch auch Menschen mit, denen das Signalwort Fußball erst einmal ausreicht, um einen derart umständlichen Einstieg zu überstehen, bis es jetzt endlich spannend wird: Nein, es waren keine Fußballer, die sich am Wochenende in Nürnberg getroffen haben, sondern die besten Freestyle-Frisbee-Spieler des Landes. Und, ja, das, obwohl es in Nürnberg nur einen Laden gibt, in dem man ein entsprechendes Sportgerät (Scheibe oder Disc, weil Frisbee streng genommen nur eine Scheibe oder Disc der Firma Frisbee bezeichnet) kaufen kann, allerdings selbst da nur ein Exemplar, das international kaum mehr verwendet wird.

"Wir haben das doch ziemlich gut hingekriegt"

Erstaunlich. Allerdings nicht für Chris Bellaj, dem blöde Fragen und unzulässige Zuspitzungen als Medienpädagoge nicht fremd sind. Er sagt sogar, dass Nürnberg zu den Frisbee-Hochburgen zähle, zumindest nach Berlin, Köln und Karlsruhe. Deshalb sei der Gedanke auch gar nicht so abwegig gewesen, die neunten Deutschen Meisterschaften in die Stadt zu holen, die Arbeit für die Dreh-AG aber dann doch enorm. „Es gab dann doch unheimlich viel zu tun. Vor allem ohne die Unterstützung von Sponsoren“, sagt Bellaj, „aber wir haben das doch ziemlich gut hingekriegt.“

Wir, das ist die Dreh-AG, eine lose Gemeinschaft (Community) von 15 Nürnberger Freestyle-Frisbee-Spielern (Jammer), die sich auf der Wöhrder Wiese oder zuletzt häufiger unter der Theodor-Heuss-Brücke treffen, um gemeinsam „möglichst originelle oder schwierige Tricks mit der Scheibe auszuführen“ (vielen Dank, Wikipedia) — ein solches Treffen nennt man dann, dem musikalischen Vokabular entlehnt, Jam. So viel zu den Grundlagen, weiter zu den Eindrücken von den Deutschen Meisterschaften in der, Kunstpause, Turnhalle der Grundschule Ziegelstein:

Es riecht ein wenig streng, so wie es eben riecht, wenn an drei Tagen in einer Turnhalle nicht nur schweißtreibender Sport betrieben, sondern auch geschlafen wird. Es hört sich an, wie es sich eben anhört, wenn jeder mal DJ sein darf. Und genauso bunt sieht es auch aus. Man erwartet langhaarige Barfüßige oder zumindest Trendsportler und wird überrascht von Trucker- und Fleischmützenträgern, von sehnigen Vollblutsportlern und Vollbiertrinkern, von Vereinsmeiern in T-Shirts von bekannten Teamsportausrüstern und eben auch von langhaarigen Barfüßigen. „In den USA“, erzählt Chris Bellaj, „spielen ganz viele IT-Leute, um nach einem Tag vor dem Rechner ganz schnell woanders zu sein. Hier bei uns findest du alle: Freestyle-Hippies, Rechtsanwälte, Arbeitslose und IT-Leute.“

Geduld und Leidenschaft

Er selbst ist Radio-Journalist, Medienpädagoge und so etwas wie der weltweit tätige Pressesprecher dieser unbekannten Sportart. Eher aus Zufall war er 2006 im Stadionbad, als dort ein Wettkampf stattfand, es regnete, aber Bellaj war trotzdem fasziniert. Seitdem reist er der Scheibe hinterher, im Gepäck hat er stets seine Kamera, wenig später sind seine Videos von den Weltmeisterschaften in Riccione oder den Deutschen Meisterschaften in Nürnberg oder vom Wiesn-Jam in München dann auf YouTube zu sehen. Meistens nimmt er selbst auch teil und ist „über den vorletzten Platz sehr glücklich“. Anders gesagt: Freestyle Frisbee ist anspruchsvoll, erfordert Geduld und Leidenschaft. Wie anspruchsvoll es sein kann, ist für das ungeübte Auge auf den ersten Blick kaum zu sehen.

Freddy Finner (kein Künstlername) gab in Nürnberg den Oberkampfrichter, der beim Freestyle Frisbee natürlich nicht Oberkampfrichter, sondern „judging director“ genannt wird, und erklärt jetzt einmal, was da genau bewertet wird, wenn einer, zwei oder gar drei Jammer ihre Tricks vorführen: „Bewertet wird nach drei Kategorien: Die Ausführung — also wie viele Fehler werden gemacht, wie viele Drops gibt es, wie oft fällt die Scheibe auf den Boden. Die Schwierigkeit — das erfordert natürlich erfahrene Judges, die auch beurteilen können, wie schwer ein Trick ist, selbst wenn sie ihn selbst gar nicht beherrschen. Dabei geht es auch darum, wie oft die Scheibe die Drehrichtung wechselt, im besten Fall eignet sich jeder Jammer den Trick zweimal an, einmal in und einmal gegen den Uhrzeigersinn. Und es geht darum, wie oft die Scheibe auf dem Kopf steht, denn natürlich ist sie da viel schwieriger auf dem Finger zu halten. Und dann kommt noch der künstlerische Eindruck dazu — wie flüssig ist die Routine, wie gut passt die Musik dazu. Am Ende führen die sechs Judges, die selbst alle Jammer sind, ihre Ergebnisse zusammen, das ergibt dann eine Punktzahl.“ So viel zur Theorie.

Frisbee: Nürnberg, der Mittelpunkt der Scheibenwelt

In der Praxis kann Freestyle Frisbee dann wie eine Mischung aus Capoeira und Rhythmischer Sportgymnastik aussehen — oder ganz anders. Chris Bellaj erklärt: „Jeder Jammer hat einen anderen Hintergrund, manche kommen vom Skaten, andere vom Breakdance.“ Oder tatsächlich von jenem brasilianischen Tanz namens Capoeira, wie der Karlsruher Florian Hess, amtierender Europameister im Doppel (Pairs), der 2004 schon einmal in Nürnberg war. 20 Leute aus ganz Deutschland hatten sich damals auf der Wöhrder Wiese getroffen, ein Guerilla-Jam — heute, da sich die Szene schon aus praktischen und versicherungstechnischen Gründen allmählich der lange verpönten Vereinsmeierei öffnet und auch die Nürnberger Dreh-AG nach einem geeigneten Verein sucht, kaum mehr denkbar.

Genau deshalb fällt Robert Seel inmitten der Freestyle-Hippies und Barfuß-Künstler auch gar nicht auf, seine Stimme schon. Seel ist der erste Vorsitzende des DJK-BFC Nürnberg, einem Verein, der für so manche Sonderlinge des Sportspektrums zur Heimat geworden ist. Kung-Fu, Boccia, Mölkky und eben auch Ultimate Frisbee werden in der Hofer Straße angeboten und eigentlich sollten dort auch die Deutschen Freestyle-Meisterschaften angeboten werden.

Doch dann kam der Regen und ging nicht wieder, weshalb Chris Bellaj und seine Mannschaft in die nahe Grundschule Ziegelstein umziehen mussten. Seel spricht trotzdem von „der dritten Deutschen Meisterschaft bei uns, welcher Verein kann das schon von sich behaupten?“ Die Fußballer nicht, um eine Brücke zurück zum Beginn dieses Textes zu schlagen, der tatsächlich 240 Zeilen lang geworden ist. Das muss man sich mal vorstellen.
 

 

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