Stadtteilkinos sind vom Aussterben bedroht

24.10.2012, 18:03 Uhr
Stadtteilkinos sind vom Aussterben bedroht

© Eduard Weigert

Der Treppenaufgang ist mit einem Brett vernagelt. Darauf steht in großen schwarzen Buchstaben: „Zutritt verboten!“ Das Foyer hinter der Glastür ist menschenleer. Das „Roxy“ in der Nürnberger Gartenstadt hat schon vor vielen Monaten den Kinobetrieb eingestellt.

Hermann Kiesel ist 72. Der rüstige Mann mit grauem Haar legt den Lichtschalter um und holt das Kino für wenige Minuten zurück ins Leben. Seine Augen, versteckt hinter einer Brille und buschigen Augenbrauen, huschen über die Sitzreihen und die Fensterluke, die den Kinosaal von den Filmprojektoren trennt.

Zuletzt hatte er im Juli vergangenen Jahres den Apparat im Vorführraum angeworfen. Heute stapeln sich hier Kartons, Reklameplakate und verstaubte Filmrollen. Damals flimmerte der siebte und letzte Teil von „Harry Potter“ über die Leinwand. „Natürlich auf 35-Millimeter-Filmstreifen“, sagt der Roxy-Besitzer stolz und fährt mit der rechten Hand zwischen zwei Knöpfe seiner braunen Weste

Wiedereröffnung des "Roxy" am 31. Oktober

Stadtteilkinos sind vom Aussterben bedroht

© Eduard Weigert

Seit 1950 hat Kiesel im Kino des Vaters mitgeholfen. Der Preis für eine Vorstellung damals: 50 Pfennig. Vierzig Jahre später suchte er wegen der wachsenden Konkurrenz eine Nische für sein „Roxy“, das dann zum Fremdsprachenkino wurde. Und das könnte es künftig auch bleiben: „Momentan“, sagt er mit einem Lächeln, „sieht es gar nicht mal schlecht aus.“

Der Grund: Eine potenzielle Nachfolgerin habe ernsthaftes Interesse bekundet. Genaueres will Kiesel nicht verraten. Fest steht: Wenn alles nach Plan läuft, könnte das Roxy noch im November wiedereröffnen. Neue Einrichtung, Leinwände und digitale Technik inklusive.

Das wäre eine unverhoffte Wendung. Denn: Stadtteilkinos wie das Roxy sind vom Aussterben bedroht. Ein Trend, der bundesweit zu beobachten ist: Seit 2003 haben 344 Kinosäle dichtgemacht. Häufig fehle die Nachfolge, hinzu kämen die hohen Kosten für eine Modernisierung, sagt Ann-Malen Witt, Sprecherin der Filmförderanstalt (FFA) in Berlin. Sie spricht von einem „finanziellen Kraftakt für die Betreiber“.

Anmerkung der Redaktion vom 24. Oktober: Das Roxy eröffnet am 31. Oktober mit einer Preview des neuen James-Bond-Films wieder.


„Eigentlich“, sagt Witt, „steht Nürnberg mit seinen sieben Kinos ganz gut da.“ In Bayern gebe es Städte, die es wesentlich schlimmer trifft. „Wer nicht auf den Zug der Digitalisierung aufspringt, verpasst eben den Anschluss“, so die Sprecherin. Alternativ bliebe nur das Besetzen eines Nischenprogramms, um ein Gegenangebot zu schaffen.

Rund 50 Prozent aller Kinos in der Bundesrepublik zeigen bereits digitale Filme. Bis Ende 2013, das schätzt der Hauptverband Deutscher Filmtheater (HDF) in Berlin, wird der Anteil auf 70 Prozent ansteigen.

Charme der 50er Jahre ist erhalten geblieben

Hermann Kiesel weiß, dass sein Roxy nicht auf dem neuesten Stand der Technik ist. „Das hat eben einen ganz besonderen Charme hier“, findet er und zeigt auf die roten Wände. Dort hängen goldene Lüster aus den 50er Jahren, die den Raum in schummriges Licht tauchen.

Die Sitzflächen der blauen Stoffsitze sind hochgeklappt und mit einer dünnen Schicht Staub bedeckt. 150 Zuschauer finden hier Platz. Kiesel lässt seinen Blick wehmütig über die Sitzreihen schweifen. „Tja, so ist das“, sagt er und zieht den dunkelroten Samtvorhang von Saal 1 hinter sich zu.

Für ein Kleinkino wie das "Roxy" belaufen sich die Kosten für eine Digitalisierung auf 80.000 Euro pro Saal. Kiesel überlegt ernsthaft, bis Ende November die digitale Technik an Bord zu holen. Der Zeitpunkt ist nicht willkürlich gewählt: „Wir haben bis dahin die Zusicherung von der Filmförderung, dass 50 Prozent der Kosten übernommen werden.“

Stadtteilkinos sind vom Aussterben bedroht

© Stefan Hippel

Der Hauptkonkurrent heißt Cinecittà. Das Multiplexkino im Herzen von Nürnberg sei der Hauptgrund für die Flaute im Kleinkino, so Kiesel. Vor allem ziehe es die jungen Leute in den Komplex, der mit 5.000 Kinosesseln in 21 Sälen und modernster Bild- und Tontechnik aufwartet. Der Löwenanteil der Einnahmen an der Kinokasse fließt in die Kasse des Platzhirschen. „Die Kleinen“, sagt Kiesel, „ziehen da den Kürzeren.“

Die Eröffnung des Cinecittà im Jahr 1995 bekamen die übrigen Kinos schnell zu spüren: 1999 schloss der „Atlantik-Palast“ in der Karolinenstraße. Das „Admiral“ in der Königstraße war zur Modernisierung gezwungen und eröffnete 2002 in einem Neubau an gleicher Stelle wieder.

Die „Meisengeige“ und das „Metropolis“ gehören dem Cinecittà-Erbauer Wolfram Weber. Das „Atrium-Kino“ — es gehörte einst ebenfalls zum Weber-Clan — siechte über Jahre dahin. Wasser tropfte von der Decke. Die Sitze gingen aus den Fugen. Im Winter fiel die Heizung aus. 2010 machte das Atrium endgültig dicht.

Stadtteilkinos sind vom Aussterben bedroht

© Hagen Gerullis

Ein Schicksal, das dem „Rio-Palast“ in Gostenhof erspart blieb. Kinoleiter Franz Ach junior renovierte das Haus in den 90er Jahren aufwendig. Die Anzahl der Sitzplätze wurde reduziert und das Filmprogramm umgestaltet.

Dass Engagement und Courage sich auszahlen können, beweist auch der Fall „Casablanca“. Zahlreichen Fans war es zu verdanken, dass der Vorhang am Kopernikusplatz 2009 nicht fiel. Durch die Mitgliedsbeiträge

des „Casa e.V.“ und eine Spende der Zukunftsstiftung der Sparkasse in Höhe von 200.000 Euro wurde das Kino renoviert.

Im selben Jahr eröffnete es wieder. „Wir staunen täglich, dass es so toll funktioniert hat“, sagt Theaterleiter Matthias Damm. Ein bisschen Glück, so Damm, habe mit Sicherheit auch dazugehört. Bis Ende des Jahres rechnet er mit 30.000 Zuschauern.

Von einer solchen Bilanz ist das Roxy noch weit entfernt. Hermann Kiesel läuft mit langsamem Schritt durch das unbeheizte Foyer. Die Regale hinter der Theke sind ausgeräumt. Die Popcorn-Maschine ist leer. Für Kiesel würde ein langgehegter Wunsch in Erfüllung gehen, „wenn das Roxy nicht von der Bildfläche verschwindet“.

Sollte das Geschäft mit der Interessentin platzen, wird aus dem Kino wahrscheinlich ein Supermarkt. Ein benachbarter Discounter hat bereits Interesse angemeldet.

 

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