„Wir können Integration, aber das ist kein Selbstläufer“

27.6.2016, 08:00 Uhr
„Wir können Integration, aber das ist kein Selbstläufer“

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Nürnberg kann Integration, lautet ein häufig gehörter Satz. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ulrich Maly: Ja, ich bin sogar fest überzeugt davon. Weil wir es bewiesen haben in den Jahrhunderten unserer Geschichte. Es wird immer vergessen, dass die Stadt Nürnberg vor der Industrialisierung gerade mal 30 000 Einwohner gehabt hat und dann binnen weniger Generationen auf 350 000 Menschen gewachsen ist. Auch damals hat sich eine völlig neue Stadt zusammengefunden, auch damals hat es eine religiöse Durchmischung gegeben. Die rein evangelische Stadt ist wieder katholisch geworden, bedingt durch die Zuwanderung aus der Oberpfalz.

Das ist aber lange her . . .

Maly: Ja, aber es ging danach weiter. In den späten 1950er Jahren haben wir begonnen, Gastarbeiter anzuwerben. Damals waren die ersten Italiener ziemlich fremd, wir haben Spaghetti klein geschnitten und wussten nicht, was Pizza ist, auch das wird heute gerne vergessen. Später ging es weiter mit Gastarbeitern aus anderen Ländern und Kulturen, etwa der großen Zahl an Türken, die nach Nürnberg kamen. Wir haben auch knapp 25 000 Spätaussiedler integriert, wenn auch zunächst nicht bruchfrei. In Langwasser gab es zu Beginn Sicherheitsprobleme, die wir in einer gemeinsamen Anstrengung gelöst haben. Mit Blick auf diese Geschichte sage ich selbstbewusst: Ja wir können Integration, aber Integration ist kein Selbstläufer. Denn es bedarf der Anstrengung derer, die zu uns kommen, genauso wie der Anstrengung der aufnehmenden Gesellschaft. Und es wird auch Geld kosten.

Deshalb warnen Sie als Vorsitzender des Bayerischen Städtetags regelmäßig vor einer Kommunalisierung der Integrationskosten . . .

Maly: . . . das stimmt. Von den fünf Feldern der Integration sind nur Sprachkurse und Arbeitsmarkt komplett finanziert, die anderen drei Felder würden aber tatsächlich kommunalisiert, wenn nichts passiert. Denn der Bau von Kindertagesstätten und der Bau von Schulen werden nur zum Teil bezuschusst. Den Rest zahlen wir. Deshalb fordern wir von den Ländern zumindest temporär höhere Förderquoten. Derzeit sind es etwa 35 Prozent der Kosten. Hier sehe ich auch die Bereitschaft in München, sich an den Kosten zu beteiligen. Schließlich, das ist sicherlich der größte Brocken, geht es um die Kosten der Unterkunft für die Flüchtlinge, die dauerhaft bleiben. Momentan trägt der Bund davon ein Drittel, zwei Drittel bleiben an den Kommunen hängen. Bundesweit geht es um eineinhalb Milliarden Euro — das sollte der Bund alleine übernehmen. Denn das sind ja keine Obdachlosen, die aufgrund Verfehlungen der städtischen Baupolitik zu unterstützen sind, sondern Menschen, die aufgrund der deutschen Außenpolitik aus internationalen Krisenregionen zu uns gekommen sind.

Was droht, wenn Bund und Land den Kommunen nicht entgegenkommen?

Maly: Dann hätten wir — gerade in den ärmeren Regionen der Bundesrepublik — die Situation, dass Bürgermeister sagen müssten: Liebe Bürger, dieses Schwimmbad kriegt ihr nicht, diese Schule kriegt ihr nicht wegen der Flüchtlinge. Das wäre die Einladung zur Entsolidarisierung. Aber das weiß auch die Kanzlerin. Insofern bin ich optimistisch, dass es gelingen wird, das Geld zu bekommen.

Bleiben wir beim Geld: Kann sich Nürnberg Integration überhaupt leisten?

„Wir können Integration, aber das ist kein Selbstläufer“

© Karlheinz Daut

Maly: Die Frage stellt sich nicht. Es stellt sich die Frage, was müssen wir uns leisten, damit es klappt. Wenn wir uns Integration nicht leisten wollen würden, dann würden wir die Einladung zu einer Spaltung der Stadtgesellschaft aussprechen. Es gibt keine Alternative zur Integration der Menschen, die länger bei uns bleiben. Dabei gilt es, die guten Erfahrungen der vergangenen Integrationsarbeit zu nutzen und die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden.

Welche Fehler waren das konkret?

Maly: Ein Fehler ist gewesen, dass wir uns nicht genug um Sprachvermittlung gekümmert haben. Wir haben immer geglaubt, die Gastarbeiter lernen Deutsch am Arbeitsplatz. Das hat gestimmt, aber die Frauen und Kinder sind etwas verloren gegangen. Jetzt wollen wir die Sprachvermittlung so betreiben, dass uns keiner auskommt, der hierbleibt. Die Bedeutung der Primärbildung in Kitas wurde früher zu gering eingeschätzt. Alles was dort nicht an Integrationsarbeit geleistet wird, kann später nur noch teurer oder gar nicht mehr erfolgen. Wir haben auch gelernt, dass ethnische Selbstorganisation — also dort, wo größere Gruppen sich treffen — nicht per se als etwas Böses oder als Ghettobildung anzusehen ist, sondern wir verstehen das als Ansatzpunkt für Integration, egal, ob das das Centro Espanol ist oder Ditib. Das sind alles für uns mittlerweile ganz wichtige Partner in der Integrationsarbeit. Und wir müssen die aufnehmende Gesellschaft noch mehr in den Blick nehmen.

Aber ist die von Ihnen vielbeschworene solidarische Stadtgesellschaft nicht schon längst in zwei Teile zerfallen — in diejenigen, die Zuwanderung als Chance begreifen und mit anpacken, und in die Gruppe der Skeptiker?

Maly: Diese These würde ich so nicht teilen wollen. Klar gibt es eine Segmentierung der öffentlichen Meinung. Da gibt es die einen, die Willkommenskultur von Anfang an gelebt haben. Die lassen sich durch nichts beirren, auch nicht durch eine Silvesternacht in Köln. Das funktioniert gut, wir haben in Nürnberg in fast jeder Unterkunft einen Helferkreis. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sagen, das Boot ist voll. Diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gibt es schon immer, in einer Größenordnung von 15 bis 20 Prozent, in der Bundesrepublik. Diese Gruppe ist lauter geworden ist.

Wie meinen Sie das?

Maly: Ich glaube, dass es in Deutschland über viele Jahrzehnte hinweg, bedingt durch unsere Geschichte, einen Bann gegenüber Rechtspopulismus gegeben hat. Nach dem Motto: Das gehört sich nicht. Sachen, die eine Marine Le Pen in Frankreich ungeschützt sagen kann, wären bei uns mit einem gesellschaftlichen Bann belegt worden. Das funktioniert heute nicht mehr. Das ist nicht nur schlimm, weil es uns zwingt, uns damit auseinanderzusetzen. Dazwischen gibt es einen großen Mittelbereich der Gesellschaft, der zwischen leisen Zweifeln und lauter Angst mäandert, den müssen wir in den Blick nehmen . . .

. . . dort finden sich eben auch die vielen Skeptiker . . .

Maly: . . . ja, genau. Deshalb müssen wir diesen Mittelbereich in den Blick nehmen. Da gilt es zunächst, soziale Konkurrenz zu vermeiden. Also nicht um die letzte bezahlbare Wohnung Flüchtlinge und die alleinerziehende Mutter in Wettbewerb treten zu lassen und auch nicht einen Absagebrief von der Kinderkrippe zu formulieren mit den Worten „Dein Sohn Hans kann nicht rein, weil der Ali drin ist“. Das wären die tödlichen Pässe.

Skeptisch auf die Zuwanderer blickt auch die von Spätaussiedlern gegründete Bürgerinitiative „Sichere Heimat“, die mit einigen Demonstrationen auf sich aufmerksam gemacht hat — und mit großer Nähe zu rechtspopulistischen Kräften.

Maly: Die sind für mich schon ein Grenzfall, weil sie zumindest von den Rechtsextremisten instrumentalisiert worden sind. Diejenigen, die dort mitdemonstriert haben, gehören aber auch zum Kreis der Verängstigten und Verunsicherten. Sie haben selber ihre Erfahrungen mit Zuwanderung gemacht und sie haben die Demokratie eben nicht mit der Muttermilch aufgesogen. Deshalb müssen wir auch nach 20 Jahren unser Augenmerk weiterhin auf diese Gruppierung legen.

Bestärkt werden viele Zweifler auch beim Blick auf den extrem angespannten Wohnungsmarkt in der Stadt. Mancher beschwört schon einen Kampf zwischen Zuwanderern und Hartz-IV-Empfängern um Wohnungen herauf.

Maly: Das ist sicherlich das schwierigste Feld. Weil auch die Zeitspanne zwischen Planung und Umsetzung, sprich: dem Bau von Wohnungen, am längsten ist. Wir hatten im Jahr 2008 in Nürnberg 800 fertiggestellte Wohnungen, 2016 werden es schon 3000 sein. Wir müssen weiterhin alle Instrumente bedienen, wir müssen dichter bauen, wir werden auch über Hochhausbau nachdenken müssen. Urbanität bedeutet Dichte – das werden wir wieder lernen müssen. Es wird schon zusammengerückt: Vor wenigen Jahren lebten 500 000 Menschen in Nürnberg, heute sind es 525 000.

Die Schwelle der Eskalation ist am Wohnungsmarkt schon einmal überschritten worden, als in Reichelsdorf ein schwarzes Schaf unter den Vermietern mit unlauteren Methoden die Stadt getäuscht hat. Wie unterbinden Sie solche Auswüchse?

Maly: Es war von Anfang an unser Ziel, es nicht zu Verdrängungseffekten auf dem Wohnungsmarkt kommen zu lassen. An der Stelle hat es eine Kommunikationspanne gegeben. Das tut mir sehr leid. Eigentlich gibt es eine Reißleine und wir haben sehr darauf geachtet, nicht zum Opfer von Spekulanten zu werden.

Stellt die Zuwanderung der Jahre 2015/16 in Ihrer bisherigen Amtszeit als OB die bislang größte Herausforderung im Amt dar?

Maly: Ich neige nicht dazu, politischen Themen durch Superlative Gewicht zu verleihen. Als Oberbürgermeister ist die Bewältigung des Verkehrs in Stadt und Region auf lange Sicht sicherlich von der gleichen Dimension, das gilt auch für die Bewältigung unseres Investitionsvorhabens wie für den Wohnungsbau. Zuwanderung ist eine große Herausforderung, aber die gibt es immer wieder.

Sind Sie froh, dass die Zuwanderung stark zurückgegangen ist?

Maly: Natürlich bin ich froh, dass es jetzt vergleichsweise ruhig ist. Ich bin nicht glücklich über alle politischen Maßnahmen, aber das muss man außenpolitisch diskutieren. Wir haben die Flüchtlinge ja nicht gerufen, aber ich halte es für ein Gebot des menschlichen Anstands, dass die, die aus Not fliehen, hier in Nürnberg anständig behandelt werden, und die, die bleiben dürfen, integriert werden. Ich rechne im Übrigen nicht damit, dass es so ruhig bleibt. Wir wappnen uns jedenfalls, falls wieder mehr Flüchtlinge hier ankommen.