Eine Uhr mit dem Tod bezahlt

21.8.2009, 00:00 Uhr
Eine Uhr mit dem Tod bezahlt

© Robert Unterburger

Maria Billner ist eine Zeitzeugin. Sie erzählte, welchen Hintergrund das «Russengrab« hat, das am Hohlweg liegt, der von Obermässing zum Hofberg hinaufführt und noch heute vom örtlichen Kriegerverein gepflegt wird.  Maria Billner lebt heute unweit ihres Sohnes und ihrer Enkel allein in einem Siedlungshäuschen in Obermässing, nachdem sie die Landwirtschaft längst aufgegeben hat. Wir veröffentlichen eine Zusammenfassung von Maria Billners Aussagen.

«Ich bin Jahrgang 1930, katholisch, verwitwet und wurde in Obermässing geboren. Mein Elternhaus stand im Oberdorf am Waldrand, wo es zum Hofberg hinauf geht. Das Russengrab ist nur etwa drei Minuten Fußweg entfernt von meinem Elternhaus. Die Russen waren keine Zwangsarbeiter, sondern 400 Mann, die im früheren, heute abgerissenen Raiffeisenstadel untergebracht waren. Gegenüber vom Bäcker waren im Krotterstadel 400 Franzosen.

Unser Vater hatte viel zu schustern gehabt. Er wollte sich bei den Zwangsarbeitern zwei Helfer holen. So hat mein Vater tatsächlich gegen Unterschrift und Abhaken in einer Liste zwei Russen-Schuhmacher erhalten. Die Zwei haben bei uns gegessen, die Mutter hat ihnen eine Brotzeit gegeben. Die waren verhärmt. Jeden Abend weinten die beiden und flehten uns an: «Wieder holen! Wieder holen!« Die haben fast nichts zu essen gehabt.

Brot und Butter

Einige Tage später haben sie die halb Verhungerten mal raus lassen zum Betteln. Ungefähr zehn Tage bevor die Amerikaner ins Dorf kamen, wurden die Zwangsarbeiter aus den beiden Stadeln getrieben. Die 800 Männer wurden alle zu Fuß weiter getrieben. Der junge Russe, der dann erschossen wurde, war auch dabei. Er war am Tag zuvor noch mittags in unserem Haus. Vorne hat er geklopft – eine Klingel gab es damals noch nicht – und ist zu uns herein.

Die Mutter gab ihm ein großes Stück Brot und Butter und stellte ihm einen Krug Wasser hin. In der Küche sah er, dass wir Kraut mit Kartoffeln und Fleisch gegessen hatten. Eine Schüssel voll abgeschälte Kartoffeln, die schon kalt waren, stand daneben.

Er deutete darauf hin und fragte uns, ob er die Kartoffeln haben könne. Mutter sagte ja, die dürfe er nehmen. Er nahm seine Mütze ab – die Russen hatten so runde Kappen -, legte die ganzen Kartoffeln hinein, und so ist er dann gegangen.

Am nächsten Tag riefen die Leute: «Heute wird ein Russe erschossen! Der hat am Hofberg beim Guglbauern (Hausname) was gestohlen.« Der junge Russe wurde verdächtigt, eine Taschenuhr gestohlen zu haben. Aber der hat doch nur Holz gehackt und war gar nicht im Haus!

Zwei Russen mit Schaufel und Pickel und ein deutscher Soldat mit Gewehr gingen am Haus vorbei Richtung Hofberg. Meine Brüder schlichen durch den Wald, nicht auf der Straße. Die Deutschen haben sie nicht bemerkt. Dann sahen die Kinder, wie die beiden Russen ein Grab schaufelten, wobei sie von dem Deutschen, der das Gewehr in Anschlag hatte, bewacht wurden. Anschließend gingen die drei Männer wieder herunter.

Dann kamen zehn deutsche Soldaten mit Gewehren heraufmarschiert übers Oberdorf, in der Mitte der Russe. Alle Nachbarn standen auf der Straße herum, mehr als 30 Leute.

Alle waren entsetzt, manche weinten: «Mein Gott, jetzt bringens den Buam da nauf  und erschießen ihn! Der hat doch keinem was gemacht!« Die Kinder liefen wieder alle hinauf durch den Wald zum Spitzen. Es bemerkte niemand, dass die Buben zuschauten.

Und dann stellten sie den Russenbuben hin, haben ihm die Arme zusammengebunden. Ein Russe sagte noch was auf Russisch zu ihm. Der junge Russe betete und bekreuzigte sich. Anschließend verband man ihm die Augen, und dann legte der ganze Haufen der deutschen Soldaten an und schoss. Die waren keine zehn Minuten dort droben, dann hörte man die Schüsse. Der Widerhall im Wald dort droben war so stark, dass man die Schüsse im ganzen Ort hörte. Er hat alle aufschreien lassen: «Mein Gott, jetzt ist er tot!«

Der Leichnam fiel nicht in die aufgeworfene Grube, sondern vornüber auf das Gesicht neben das Loch. Die Kinder haben das genau gesehen. Dann packten ihn die Soldaten an den Stiefeln und schleiften ihn in das Loch hinein. Anschließend mussten ein paar hinauf und das Loch zumachen.

Hätten wir das gewusst und am Tag vorher den Buben fliehen lassen, dann hätten sie uns auch erschossen.

Die angeblich gestohlene Uhr, wegen der der junge Russe erschossen wurde, war gar nicht bei denen im Haus. Ein paar Tage nach der Hinrichtung hat sich die gestohlen geglaubte Uhr wieder gefunden. Sie war nur verlegt worden. Der angeblich bestohlene Mann und Denunziant war «ein alter Lump«. Er hatte in Viehhausen einen großen Bauernhof, den Gunklhof.

Es war furchtbar damals. Dem Denunzianten tat es zwar leid, weil ein Unschuldiger wegen einer angeblich gestohlenen Uhr sein Leben lassen musste. Aber ich kann doch nicht jemanden erschießen lassen, und dann sagen: «Jetzt tut es mir leid!« Einen Toten kann man doch nicht mehr lebendig machen!«