Spiel-Manager mit einem Leben in drei Welten

1.3.2012, 13:00 Uhr
"Es gibt verheerende Bilder von mir", sagt Deniz Aytekin. "Ich erschrecke selbst, wenn ich sehe, wie ich manchmal auf dem Platz wirke."

© Wolfgang Zink "Es gibt verheerende Bilder von mir", sagt Deniz Aytekin. "Ich erschrecke selbst, wenn ich sehe, wie ich manchmal auf dem Platz wirke."

Wo Deniz Aytekin denn jetzt lieber wäre? Da wo er ist, nämlich im Nürnberger Presseclub? Oder doch vor irgendeinem Fernseher um das Länderspiel Deutschland gegen Frankreich anzuschauen? Schon die Antwort auf die erste Frage, die dem 33-jährigen Fifa-Schiedsrichter an diesem Abend gestellt wird, überrascht. "Ich wäre lieber daheim bei meinen Kindern", sagt Aytekin. Die Zuhörer lächeln - und mögen ihn ab sofort.

Überhaupt: Der Mann, der da sitzt und Fragen beantwortet und der Mann, der da zum Beispiel am Montag beim Zweitlligaspiel von Fortuna Düsseldorf und Alemannia Aachen auf dem Fußballplatz dafür sorgte, dass die Regeln eingehalten wurden, scheinen zwei verschiedene Personen. Sind es aber nicht.

Deniz Aytekin weiß, dass er beim Pfeifen nicht immer vorteilhaft rüberkommt. Zum Teil, da ist er sicher, liegt es an seiner Körperlänge. "Es gibt verheerende Bilder von mir", sagt er, "wenn ich mit meinen 1,97 Metern einen zusammenfalte...." Der Satz endet in Nachdenklichkeit. Dabei sieht er sich eigentlich nicht als Oberlehrer oder Fertigmacher, sondern als Spiel-Manager. Als einer, der durch ganz viel Kommunikation das Geschehen auf dem Fußballplatz positiv beeinflusst.

Überhaupt: Der Mann, der da sitzt und ausgerechnet im Presseclub Fragen beantwortet, hat eigentlich kein gutes Verhältnis zu den Medien. "Aus Selbstschutz" hat er längst aufgehört, Artikel über sich zu lesen. Hat aufgehört, die Noten, die ihm nach jedem Spiel verpasst werden, ernst zu nehmen. "Es gibt Tage, da pfeift man einen totalen Stiefel und bekommt eine Eins und an anderen pfeift man sensationell und bekommt die Fünf." Wichtiger ist ihm daher, jeden Einsatz zusammen mit seinem Schiedsrichter-Coach noch einmal durchzugehen. Und dann auch noch einmal alleine. "Ich ärgere mich über jeden noch so kleinen Fehler, den ich gemacht habe."

Ein Fußballer wird entweder Schiedsrichter, weil er selbst nicht gut Fußballspielen kann oder weil er zuhause nichts zu melden hat. Solche und ähnliche Einschätzungen kennt Deniz Aytekin längst - und kokettiert ein bisschen damit. Denn bei ihm, so erzählt er jedenfalls, war es ganz anders.

Er, der junge Fußballer des TSV Altenberg, ging zusammen mit einem Freund zum Schiedsrichterlehrgang, weil er die Regeln kennen wollte. "Ich wollte es genau wissen. Denn ich mach etwas ganz oder gar nicht." Dann gefiel ihm das Anwenden dieser Regeln so sehr, dass er dabei blieb. Und schnell aufstieg. Was dafür eine Rolle spielte: "Ich denke, das Gesamtpaket." Also Einstellung, Alter, Größe, Auftreten. Eine gute Leistung vor allem bei solchen Spielen, bei denen ein wichtiger Beobachter vor Ort ist.

"Es sind diese 30 Sekunden vor dem Spiel"

Die Regeln kennt Aytekin längst. Die Schattenseiten seines Hobbys auch. "Für uns ist es Applaus, wenn nach dem Spiel keiner über uns spricht", sagt er. Warum er trotzdem immer weiter macht? Sich Woche für Woche Beschimpfungen und öffentlicher Kritik aussetzt? "Es sind diese 30 Sekunden vor dem Spiel", versucht er, das, was ihn fasziniert, in Worte zu kleiden. "Dieser Moment, in dem du rausgehst und die Mannschaften auf den Platz führst." Ein Moment, der ihn jedes Mal wieder elektrisiert. Das Gefühl, es aus eigener Kraft hierher geschafft zu haben. Das Gefühl, Teil des großen Ganzen namens Fußball zu sein. "Das kommt gleich nach der Geburt meiner beiden Kinder." Dafür nimmt er viel in Kauf. Auch den Druck, körperlich ständig an sich arbeiten zu müssen.

Überhaupt: Die Fitness. "Wir sind Leistungssportler", erklärt der 33-Jährige. Gute zehn Kilometer rennt ein Schiedsrichter pro Bundesligaspiel. Aytekins Puls schlägt dabei im Schnitt 160 Mal in der Minute. Um sich beim Springen zwischen seinen drei Lebenswelten Hobby, Beruf und Familie selbst zu überlisten, hat er sich Laufband und Dusche ins Büro in Nürnberg einbauen lassen. Daheim in Oberasbach ist der Keller zum Fitnessstudio umfunktioniert. Damit fallen alle Ausreden fürs Nicht-Trainieren weg. "Ich kann nicht sagen, bei dem Regen kann man nicht raus."

Zeit ist ein knappes Gut im Leben des 33-Jährigen. Sein Hobby verschlingt viel davon. Sein Beruf auch. Der Betriebswirt arbeitet als Internet-Unternehmer. Für drei verschiedene Beratungsportale ist er in unterschiedlicher Funktion verantwortlich: anwalt.de (vermittlung von Rechtsanwälten), psychologe.de (Vermittlung von Psychologen) und viversum.de (Lebensberatung und Vermittlung von Astrologen). Eine Steilvorlage für pikante Schlagzeilen bietet vor allem viversum.de. Dabei wird im Gespräch deutlich, dass sich Aytekin durchaus Gedanken über dieses einträgliche Geschäftsfeld macht. Dass er sich verantwortlich dafür fühlt, dass die hilfesuchenden Nutzer des Portals nicht abgezockt, sondern ernsthaft beraten werden.

"Das Leben besteht aus mehr als Fußball"

Überhaupt: Die Verantwortung.So wichtig Deniz Aytekin der Perfektionismus in Hobby und Beruf ist, so wichtig ist ihm auch seine Familie. Um mehr für den vierjährigen Sohn und die neunjährige Tochter da zu sein, gönnt er sich einen jobfreien Tag in der Woche. Als strengen Vater schätzt er sich selbst ein. Als einen, der seinen Kindern Werte vermitteln will. Seine Familie macht ihm immer wieder klar, "dass das Leben aus mehr besteht, als aus Fußball". Sein Sohn beschwert sich schon mal, dass der Papa nicht reagiert, wenn er ihm vor dem Fernseher zuwinkt.

Und seine Frau interessiert sich ohnehin kaum für sein Hobby. Am 2. April 2011, am Tag nach jenem denkwürdigen Spiel zwischen dem FC St. Pauli und Schalke 04, das Aytekin abbrach, weil sein Linienrichter kurz vor Schluss von einem vollen Bierbecher am Kopf getroffen worden war, überschlugen sich die Zeitungen deutschlandweit mit Artikeln über den 33-Jährigen. Seine Frau allerdings begrüßte ihn am Frühstückstisch mit: "Na, wie war´s gestern? Alles glatt gelaufen?"  Eine Haltung, "die mir sehr entgegenkommt".

Ein Anliegen hat Deniz Aytekin am Ende dieses Presseclub-Abends noch: Er bittet um eine vorurteilsfreiere Beobachtung und Bewertung der Schiedsrichter. Um die selbe  Neutralität, die auch er den Spielern auf dem Platz entgegenbringen möchte.

Er garniert diese Bitte mit der Geschichte von einem Jungen, der ihn bei einem Spiel bespuckt hat. Statt den Jungen anzuzeigen und ihm damit ein eventuell langes Stadionverbot zu bescheren, nahm er ihn in die Pflicht. "Ich habe gesagt, er muss selber Schiedsrichter werden und mindestens 15 Spiele pfeiffen, dann verzichte ich auf alles andere." Der Junge ging darauf ein. "Und jetzt pfeifft er nach den 15 Spielen weiter."

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