Der Odenwald - Ruhe und Abgeschiedenheit für Urlauber
15.06.2020, 10:16 Uhr
1804 soll als letzte Delinquentin eine Zigeunerin in Beerfelden hingerichtet worden sein. Weil sie ein Huhn und zwei Laibe Brot für ihr krankes Kind stahl. Laut fluchend und wehklagend soll sie hier oben gestanden haben, bevor man sie henkte.
In historischen Quellen finden sich keine Spuren von ihr. Historiker vermuten, dass die Schauergeschichte erdichtet wurde, um Sommerfrischler aus den Städten in den Odenwald zu locken. Noch heute kommen Wanderer wegen der mittelalterlichen Richtstätte hier vorbei. Sie gilt als die besterhaltene Deutschlands.
Die Region zwischen Rhein, Neckar und Main ist ein Land dunkler Mythen und Sagen. Laut Nibelungenlied hat Siegfried hier im Drachenblut gebadet und Hagen von Tronje hat seine tödliche Lanze gezuckt. Gleich mehrere Orte behaupten, Schauplatz des hinterlistigen Mordes an Siegfried aus der mittelalterlichen Heldensage gewesen zu sein.
Dreimal auf der Unesco-Liste
Überall entdeckt man auch römische Ruinen und alte Ritterburgen. Jedes Städtchen preist seinen Marktplatz, seine Fachwerkgassen und Stadtmauern als die schönsten im Land. Mit dem karolingischen Kloster Lorsch, der Fossilienlagerstätte Grube Messel und dem Limes steht der Odenwald gleich drei Mal auf der Unesco-Liste des Welterbes. Seit 2004 ist der Odenwald auch Unesco-Geopark, Prädikat für eine geologisch einzigartige Naturlandschaft. Kaum eine andere Region in Deutschland wurde von der Unesco mit so vielen Auszeichnungen bedacht. Trotz der Würdigungen gab es nie einen Touristenandrang.
Der Odenwald war, anders als Schwarzwald, Harz oder Erzgebirge, nie ein Reiseziel, das Massen anzog. Viele Touristen sehen die bewaldeten Hügel meist nur aus der Ferne vom Heidelberger Schloss aus. Selbst in der Hauptreisezeit kommt es vor den bekanntesten Sehenswürdigkeiten kaum zu großen Menschenaufläufen. Wanderer haben die Waldwege oft ganz für sich allein.
Jetzt, inmitten der Corona-Krise, scheinen die weniger bekannten Mittelgebirge der ideale Ort, wo man Menschen und Viren getrost aus dem Weg wandern kann. Wenn sich die Urlaubshungrigen Richtung Ostsee und Oberbayern in Bewegung setzen, werden Reisende im Odenwald das finden, was mittlerweile auch Wolf und Luchs anzieht: Ruhe und Abgeschiedenheit in einer der waldreichsten Naturlandschaften Mitteleuropas.
Europas bedeutendste Geweihsammlung
Dort steht auch der Drei-Länder-Stein bei Hesselbach. Ein schlichter Steinpfahl von 1837 markiert die Stelle, wo Baden-Württemberg, Bayern und Hessen aufeinandertreffen. Seinerzeit war der Odenwald Grenzland zwischen den Großherzogtümern Baden, Hessen und dem Königreich Bayern.
Einige der schönsten Sehenswürdigkeiten lassen sich seit Kurzem wieder bestaunen. Die Hirschgalerie mit Europas bedeutendster Geweihsammlung und das deutsche Elfenbeinmuseum im Erbacher Schloss sind seit Mitte Mai wieder geöffnet. So manche Ruine tief im Wald wie Burg Wildenberg bei Kirchzell oder Dauchstein und Stolzeneck über dem Neckar lohnen ebenso den Besuch wie die Limeswanderwege zwischen Miltenberg und Osterburken.
In den Städtchen, die sonst viele Wochenend-Ausflügler anziehen, ist derzeit auch wenig los. Das berühmte spitztürmige Fachwerk-Rathaus am Michelstädter Marktplatz diente schon als Kulisse für Heimatfilme, als Sonderbriefmarken-Motiv und Titelbild für Deutschland-Kalender. Seit seiner Einweihung um 1484 ist das spätgotische Gebäude fast unverändert geblieben. Mit dem engelsbewachten Marktbrunnen, den Kirchtürmen und Fachwerkgiebeln im Hintergrund ist es zum Inbegriff kleinstädtischer Idylle geworden.
Im nahen Erbach finden fernwehgeplagte Wanderer unerwartete Exotik. Im Zentrum des Kreisstädtchens werben Wirtshausschilder und die Auslagen von Schmuckläden für ein ungewöhnliches Kunsthandwerk: Hier liegt Europas Elfenbeinzentrum. 1783 gründete Franz I. zu Erbach-Erbach die Zunft der Elfenbeinschnitzer, nachdem er auf Reisen durch Europa Gefallen an der Handwerkskunst gefunden hatte. Nachdem auf der Weltausstellung 1873 in Wien die Erbacher Elfenbeinrose ausgezeichnet wurde, lebte fast ein Viertel der Stadt von der Verarbeitung. Bereits um 1900 war diese Blütezeit schon wieder zu Ende, als man in Hongkong und anderen asiatischen Metropolen erfolgreich begann, die Erbacher Rose zu kopieren. Letztendlich hat das Washingtoner Artenschutzabkommen aber mit dazu beigetragen, dass die verkrustete Tradition sich neu entwickelte. Seither werden alternative Werkstoffe wie Bein, Horn, fossiles Mammut-Elfenbein und inzwischen auch Tagua-Nüsse von südamerikanischen Palmen verarbeitet.
Mehr Informationen:
Tourismusgemeinschaft Odenwald
Wanderungen:
Der Odenwaldklub informiert im Internet über die Wanderwege zwischen Main, Rhein und Neckar.
Anreise:
Von Nürnberg nach Michelstadt gut 200 Kilometer mit dem Auto in rund zweieinhalb Stunden. Nach Miltenberg über Würzburg per Zug ab zweieinhalb Stunden.
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