Ewige Spekulationen um seinen Tod

Ein amerikanischer Albtraum: Das JFK-Attentat vor 60 Jahren

Philipp Peter Rothenbacher

Nordbayerische Nachrichten Forchheim-Ebermannstadt

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21.11.2023, 16:44 Uhr
Ein Foto von John F. Kennedy liegt neben der Gedenktafel auf der Dealey Plaza in Dallas, dem Platz, wo am 22. November 1963 das Attentat auf den damaligen US-Präsident geschah.

© Larry W. Smith/EPA/dpa Ein Foto von John F. Kennedy liegt neben der Gedenktafel auf der Dealey Plaza in Dallas, dem Platz, wo am 22. November 1963 das Attentat auf den damaligen US-Präsident geschah.

Freitag. Dallas, Texas, Elm Street, 22. November, 12.30 Uhr: Eine Kugel durchschlägt den Nacken von John Fitzgerald Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie tritt vorne am Hals, knapp unterhalb des Kehlkopfes, wieder aus und zerreißt seinen Krawattenknoten. Kennedys Arme gehen nach oben, sein Kopf neigt sich zur Seite, er hält sich die Hände an den Hals. Seine Frau Jacqueline Lee Bouvier Kennedy (genannt "Jackie"), die neben ihm auf der Rückbank der offenen Limousine sitzt, wendet sich ihrem Mann zu, fragt ihn: "Alles in Ordnung?".

Vor den beiden sackt der Gouverneur von Texas, John Bowden Connally Junior, zusammen: Auch er wird von einer Kugel (möglicherweise derselben wie Kennedy) getroffen. Es vergehen knapp 4,5 Sekunden, da zerfetzt eine weitere, tödliche Kugel die rechte Hinterkopfhälfte des US-Präsidenten. Jackie Kennedy schreit auf, will in Panik auf das Heck der Limousine steigen, ein Sicherheitsbeamter drängt sie auf die Hinterbank zurück. Der Wagen, ein dunkelbrauner Lincoln Continental X-100, verlangsamt zunächst seine Fahrt und rast dann davon - Richtung Parkland Memorial Krankenhaus, wo man nicht viel mehr für den 46-jährigen Katholiken Kennedy tun kann, als ihm die Sterbesakramente abzunehmen.

Um exakt 13 Uhr Ortszeit wird der US-Präsident offiziell für tot erklärt. Um 13.50 Uhr wird der 24-jährige Lee Harvey Oswald in einem Kino festgenommen. Man beschuldigt ihn, 30 Minuten zuvor den Streifenpolizisten J.D. Tippit erschossen zu haben. Zum Zeitpunkt seiner Festnahme trägt Oswald einen Revolver bei sich, der zweifelsfrei als Tatwaffe des Polizistenmordes identifiziert werden kann. Er wird stundenlang verhört. Ohne Anwalt, ohne Protokoll, keinerlei Aufzeichnungen werden gemacht.

Samstag. Gegen 1.30 Uhr morgens klagt die Polizei Oswald offiziell des Mordes an John F. Kennedy an. Die mutmaßliche Tatwaffe, ein billiges 6,5 mm-Mannlicher-Repetiergewehr italienischer Herkunft, das Beamte im 6. Stock eines Schulbuchlagers gefunden haben, ist auf seinen Namen gemeldet. Oswald hatte es wenige Monate zuvor beim Versandhändler "Klein's Sporting Goods Co." aus Chicago bestellt. Der Preis für Gewehr und Zielfernrohr betrug 21 Dollar und 45 Cent, Porto inklusive.

Die Beamten stellen Oswald in einer eilig einberufenen, chaotischen Pressekonferenz der Öffentlichkeit vor. Den Reportern gegenüber leugnet er, etwas mit dem Attentat zu tun zu haben. "I'm just a patsy!", ruft er ("Ich bin nur ein Sündenbock!").

Sonntag. Oswald soll in das 1,6 km entfernte Kreisgefängnis von Dallas überstellt werden. Um 11.20 Uhr schreitet er, flankiert von Polizeibeamten, aus dem Keller des Polizeigebäudes. Sofort bricht ein Blitzlichtgewitter über ihn herein: Der Keller ist randvoll mit Reportern, die sich um Oswald drängen. Tumultartige Szenen. Er macht einige Schritte in Richtung des Überführungswagens.

Ein Mann löst sich aus der Menschenmenge, bis er dem Angeklagten beinahe direkt gegenüber steht. Vor laufenden Fernsehkameras schießt der 52-jährige Jacob Leon Rubenstein (genannt "Jack Ruby"), zwielichtiger Besitzer zweier Nachtclubs, Oswald mit einem Colt Kaliber 38 in den Unterleib. Tödlich getroffen wird er ins Parkland Krankenhaus gefahren. Dort, wo fast genau 48 Stunden zuvor Kennedy starb, erklärt man Oswald um 13.07 Uhr für tot.

Die offiziellen Fakten

Aus dem Schlussbericht der sogenannten "Warren-Komission", dem offiziellen Ausschuss zur Untersuchung des Attentats (unter Vorsitz des damaligen obersten Bundesrichters Earl Warren) geht hervor: Lee Harvey Oswald war ein psychisch gestörter Einzeltäter. Am Tag des Attentats befand er sich um 12.30 Uhr mit dem italienischen Karabiner bewaffnet im 6. Stock des Schulbuchlagerhauses an der Elm Street und zielte aus einem Fenster heraus auf die Limousine des Präsidenten.

Er soll Kennedy erschossen haben, weil er überzeugter Kommunist war und Aufmerksamkeit wollte. Zudem hatte er bereits im April 1963 ein (gescheitertes) Attentat auf den rechtsradikalen Generalmajor a.D. Edwin Anderson Walker in Dallas verübt - mit dem gleichen Gewehr, mit dem er knapp sieben Monate später Kennedy ermordete. Jack Ruby wiederum hat "in einem vorübergehenden Anfall von Depression und aus Empörung über den Tod des Präsidenten" Oswald erschossen. Er und Oswald hatten sich nicht gekannt. Damit war das Attentat auf John F. Kennedy aufgeklärt und der Fall geschlossen. Zumindest von offizieller Seite.

Unbegründete Verschwörungstheorien

Doch liegt es in der menschlichen Natur, derlei spektakuläre, zeitgeschichtliche Einzelereignisse nicht richtig fassen zu können. Auf die Unmittelbarkeit und vor allem Öffentlichkeit des Geschehens folgt ein Automatismus: Die Unfähigkeit des Menschen, zu verarbeiten, dass etwas Nicht-Alltägliches aus alltäglichen Gründen geschieht. Ob wissenschaftliche Leistungen, Revolten, Naturkatastrophen, Seuchen, Kriege, Unfälle - oder eben Mordanschläge.

Ein großer Mann wie JFK kann nicht so etwas "Banalem" wie einem verrückten Attentäter zum Opfer gefallen sein; das World Trade Center nicht etwas so "Typischem" wie Terroristen; ebenso wie eine Landung auf dem Mond nicht durch etwas so "Triviales" wie technischem Fortschritt möglich ist - oder bei Roswell in der Wüste von New Mexico nur etwas so "Gewöhnliches" wie ein Spionage-Ballon abgestürzt ist. Folglich stecken wahlweise die Illuminaten, Außerirdische oder natürlich eine allmächtige (Schatten-)Regierung dahinter: eine bösartige Macht, die schon um ihrer selbst Willen bösartig ist (dann braucht es, wie angenehm, gar keine Beweise). Wobei es fantasieloserweise am Ende ja doch wieder nur ums Geld geht.

Das heißt in den Augen und Überzeugungen vieler Leute: Was Geschichte macht, muss geschichtlich gemacht sein. Wie hilflos stünde der Mensch da, würden seine gesamten Wertvorstellungen durch Ereignisse über den Haufen geworfen, die eine recht simple Ursache hätten? Ein wankendes Weltbild vermag nur dann wieder Halt zu finden, wenn es sich eben irgendwo festhalten kann. Dieses "irgendwo" nennt sich Verschwörungstheorie. Der religiöse Charakter vieler solcher selbsternannter Theorien (inklusive Schöpfungsmythos, Sündenfall, Teufel und Erlösung) ist dabei kein Zufall. Sie funktionieren eben nur durch einen starken Glauben, der alle Wissenschaft, Empirie und Vernunft bezweifelt.

Und wie in der Religion geht man von einem Ursprung aus, der auch ohne Beweise absolut wahr sein muss; Mathematiker würden vom Axiom sprechen: Das Ziel steht schon fest. Erst von dort aus sucht man dann nach "Beweisen", die dem Ursprung zweckdienlich sind: Die komplette Umkehrung der Grundsätze der Aufklärung also - wo nichts absolut wahr, das Ziel unbekannt ist und man sich (mühsam) von Beweis zu Beweis arbeitet, um doch nur annähernd an einen Ursprung, eine Wahrheit zu kommen. Stattdessen hilft es halt ungemein, wenn man leichtgläubig ist: Man fühlt sich dann leichter.

Begründete Verschwörungstheorie

Solche Theorien sind darum in den meisten Fällen hanebüchener Unfug. Das Attentat auf JFK jedoch gehört zu der Minderheit an Verschwörungstheorien, die auf logischen und wissenschaftlich begründbaren Überlegungen fußen - Zweifel sind in Anbetracht unzähliger fragwürdiger Umstände und Widersprüche durchaus angebracht. Die große Mehrheit der US-Bevölkerung (vom amerikaskeptischen Europa ganz zu schweigen) hält eine alleinige Täterschaft Lee Harvey Oswalds mittlerweile für unglaubwürdig.

Das hat selbst der US-Kongress anerkannt, indem er 1976 eine "mögliche Verschwörung" nicht ausgeschlossen hat. Schlagkräftige Beweise hierfür gibt es aber nicht. Stattdessen einen Haufen Indizien. Dass Oswald auf Kennedy geschossen hat, steht landläufig außer Frage. Dass nur er hinter dem Attentat steht - und niemand davon wusste oder es ahnte - hingegen schon. Sollte er Einzeltäter gewesen sein, hat er zum Zeitpunkt des Attentats jedenfalls eine außergewöhnliche Treffsicherheit in außergewöhnlicher Schnelligkeit an den Tag gelegt. Und seine jähe eigene Ermordung durch einen dubiosen Mann mit dubioser Begründung... Stoff für Spielfilme...

Popkulturelle Tragödie

Der 22. November 1963 traf die US-Gesellschaft ins Mark der eigenen Identität. Was auch daran deutlich wird, dass die Ermordung JFKs - und ebenso die tödlichen Schüsse auf seinen Bruder Robert am 6. Juni 1968 - sogleich eine (populär-)kulturelle Dimension erhielten: Andy Warhol erschuf ein Jahr nach dem Attentat von Dallas einen Siebdruck aus Jackie-Kennedy-Fotographien, die sie teils lachend in der Limousine neben ihrem Mann und teils als trauernde Witwe zeigen.

Die Rolling Stones beantworteten 1968 in ihrem Song "Sympathy for the Devil" die Frage "Who killed the Kennedys?" mit einem bitteren "It was you and me". 1978 gaben vier Jungs in Kalifornien ihrer später enorm einflussreichen Punkband den Namen "Dead Kennedys" und 1991 sorgte Regisseur Oliver Stone mit dem oscarprämierten Film "JFK" für verschwörungstheoretische Furore. Mit der Zahl an (teils schamlos spekulativen) Büchern, die sich am Kennedy-Attentat abarbeiten, könnte man gut und gerne die Berliner Mauer wiederaufbauen und im Fernsehen halten sich JFK-Dokumentationen mit den in Dauerschleife laufenden Dokus über die NS-Zeit die Waage.

Sein früher Tod machte Kennedy unsterblich, bescherte ihm ein Ticket ins Pantheon der größten amerikanischen Politiker. Der Platz zwischen Washington, Lincoln und Roosevelt war gesichert. Dieser Club ist in den Vereinigten Staaten heilig - und vor allem exklusiv. Das heißt, nur ausgesuchte Spitzenmodelle erhalten eine Mitgliedschaft.

Die Aufnahmekriterien haben sich nie geändert, denn Amerika wählt grundsätzlich nur zwei Arten von Präsidenten: Entweder den "alten", konservativen Haudegen (Nixon, Reagan, Bush junior) oder den modernen, unverbrauchten Jungspund (Kennedy, Clinton, Obama). Alles was dazwischen ist und eher farblos daherkommt (Ford, Carter, Bush senior), hat nicht das Zeug zur Legende, sondern nur für ein paar Jährchen den Stuhl im Oval Office warm gehalten, um dann in Vergessenheit zu geraten. "Placeholder presidents" - Platzhalter-Präsidenten der Geschichte.

Das mag bisweilen ungerechtfertigt sein, aber auf diese Weise läuft amerikanische Politik nun mal. Sogar im Sonderfall Nixon, so verdammt der Mann später wurde: Er gehört nach wie vor zu den bekanntesten (und in republikanischen Kreisen heimlich verehrten) Staatschefs der USA.

Legendärer Schürzenjäger

Im Falle JFK und Konsorten ist es die Aura des integren und charismatischen Polit-Rebellen, von der eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeht - ganz zu schweigen von der bloßen Optik: Kennedy war ein teuflisch gutaussehender Mann. Seiner Attraktivität, gewürzt mit einer ordentlichen Prise Charme, konnten viele (nicht nur, aber insbesondere weibliche) Wähler kaum widerstehen. Wenn er sie nicht gar gleich ins Bett lockte: JFKs politischer Ruf ist mindestens so legendär wie seine Schürzenjägerei. Selbst Marilyn Monroe konnte ihm davon ein Geburtstagsständchen säuseln.

Kennedy war ein Mann mit vielen Schwächen, Frauen waren nur eine davon: Obwohl er nach außen immer den knallharten Kämpfer gab, viril, sportlich, unbeugsam, war er seit frühester Jugend chronisch krank. Auch als Präsident litt er unter Asthma, zahlreichen Allergien, Nierenproblemen und unerträglichen Rückenschmerzen, die nur mit einer bunten Palette starker Medikamente unterdrückt werden konnten. Ein Stützkorsett half ihm dabei, nicht ständig auf Krücken gehen zu müssen.

Zynischerweise war es vermutlich auch dieses Korsett, das ihm in Dallas das Leben kostete: Hätte er es am 22. November 1963 auf seiner Fahrt durch die Stadt nicht getragen, wäre er nach der ersten, nichttödlichen Kugel, wohl einfach zusammengesackt - und somit aus der Schusslinie geraten. Doch das Korsett hielt seinen Körper aufrecht, gab seinen Kopf zum weiteren Abschuss frei.

Unverarbeitetes Trauma

Dass es in der amerikanischen Seele noch immer ein tiefes Verlangen nach einem Heilsbringer wie Kennedy gibt , zeigte 2007 der Hype um Barack Obama: Dieser stilisierte sich im Wahlkampf bewusst zu einer Art afroamerikanischem JFK, auch indem er geschickt dessen Rhetorik übernahm - und wurde schließlich gewählt. Man muss sich als Demokrat heutzutage an der Ikone Kennedy orientieren, um politisch mitreden zu können. Und wehe dem, der sich anmaßt, sie zu hinterfragen.

2011 sollte die achtteilige Mini-TV-Serie "The Kennedys" über die Geschichte der Familiendynastie (freilich mit JFK als zentraler Figur) beim einflussreichen History Channel auf Sendung gehen. Noch bevor auch nur eine Minute ausgestrahlt, geschweige denn abgedreht war, donnerte es Kritik von allen Seiten: Der Regisseur und Filmproduzent Robert Greenwald richtete eigens eine Website ein und sammelte 50.000 Unterschriften für eine Petition, um die Ausstrahlung der Serie zu verhindern.

Ehemalige Kennedy-Mitarbeiter sprachen davon, dass das Drehbuch einer "Hinrichtung" gleichkäme. Und dann protestierten auch noch JFKs Tochter Caroline Kennedy und die Nichte Maria Shriver, ihres Zeichens Ex-Frau des österreichisch-kalifornischen Ex-Gouvernators Arnold Schwarzenegger. Unter diesem massiven öffentlichen Druck wurde die Serie schließlich vor ihrer Ausstrahlung aus dem Programm geworfen. Sie sei "ungeeignet für unsere Marke" ließ der History Channel verlauten.

Warum war es zu diesem Eklat gekommen? Die Serie zeigt Vater und Familienoberhaupt Joe Kennedy als fädenspinnenden, machthungrigen Patriarchen und JFK als politisch Getriebenen, kränklich, pillenschluckend, durch die Betten flanierend. Jackie hingegen ist die überkorrekte, liebende und unter den Kapriolen ihres Mannes leidende Mutter/Hausfrau - dabei aber immer perfekt gestylt. Die Serie sei unhistorisch und werfe auf die Familie ein allzu negatives Licht, schimpften die Kritiker. Dass sie harm- und belangloser TV-Seifenoperkitsch ist, schien dagegen niemanden zu stören. Letzten Endes wurde sie auch ausgestrahlt: Auf einem kleinen Nischensender. Beinahe heimlich, ohne größere Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Mythos als "Feind der Wahrheit"

Die Kontroverse zeigte jedoch einmal mehr, wie schlecht Amerika das "Trauma Kennedy" bislang verarbeitet hat. Und, dass künstlerische Freiheit an einem Punkt endet: Bei JFK. Wer es auch nur ansatzweise wagt, am Mythos zu rütteln, geht unter.

John F. Kennedy hat einmal gesagt: "Der größte Feind der Wahrheit ist nicht die Lüge - absichtsvoll, künstlich, unehrlich -, sondern der Mythos - fortdauernd, verführerisch und unrealistisch." Damit nahm er eine Entwicklung vorweg, die just nach seinem Tod einsetzte und bis heute anhält. Nichtsdestotrotz darf angenommen werden, dass ihm die eigene Legendenbildung, der Mythos "JFK", gefällt - wo immer er gerade verweilen mag.

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