FDP-Vize fordert Söder-Rücktritt

Weiter Wirbel um bayerische Inzidenz: Verzerrungen größer als behauptet

8.1.2022, 12:01 Uhr
Seit wann Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Gesundheitsminister Klaus Holetschek von den Problemen wussten, ist unklar.

© Matthias Balk, dpa Seit wann Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Gesundheitsminister Klaus Holetschek von den Problemen wussten, ist unklar.

Am Freitag veröffentlichte das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) die Rohdaten, mit der sich die umstrittene Inzidenzaufschlüsselung zwischen Ungeimpften und Geimpften im Freistaat nachvollziehen lässt. Sie war, das ergaben Recherchen unserer Redaktion bereits Anfang Dezember, schon lange mangelhaft. Immer dann, wenn die Behörden den Schutzstatus eines Infizierten nicht klären konnten, ging das LGL von einem Ungeimpften aus - eine Verzerrung, die die Statistik quasi unbrauchbar macht, sagen Experten.

Nun liegen die Rohdaten auf dem Tisch. Sie zeigen: Das Ausmaß der Verzerrung, die LGL und Staatsregierung in Kauf nahmen, ist noch größer als behauptet. Deutlich wird das beispielhaft am 17. November. Die Sieben-Tage-Inzidenz der gesichert Geimpften lag zum Stichtag bei 109, die der bekannten Ungeimpften bei 333 - also rund drei Mal so hoch. Nur: Zu diesem Zeitpunkt war der Impfstatus bei gerade einmal 35 Prozent aller Infizierten klar. Beim absoluten Großteil, also fast zwei Dritteln, kannte das LGL ihn nicht - und rechnete die Gruppe einfach den Ungeimpften zu. So kam die Behörde auf ein Inzidenzverhältnis von 109:1468.

Die neuen Zahlen offenbaren aber, dass das nicht im Ansatz dem tatsächlichen Verhältnis entspricht. Fast einen Monat lang versuchten die Gesundheitsämter, die Daten zum Impfstatus nachträglich zu komplettieren - vergeblich, wohl auch wegen akuter Überlastung. Für den Stichtag 17. November etwa ließ sich in weniger als zwei Dritteln der Fällen final klären, ob es sich bei den Infizierten um Geimpfte oder Ungeimpfte handelte. In 27.253 Fällen fehlt diese Information trotz der Bemühung der Ämter auch vier Wochen später weiterhin.

Der Statistiker Daniel Haake, der sich seit Beginn der Pandemie ausführlich mit den Zahlen rund um Covid-19 beschäftigt, hält das Vorgehen des LGL für wissenschaftlich nicht sauber. Besonders brisant: Das Inzidenzverhältnis änderte sich trotz der Nachmeldungen nicht nennenswert - so auch exemplarisch am 17. November. "Korrigiert mit den Nachmeldungen betrug die Inzidenz der Geimpften 234, die der Ungeimpften 667", erklärt er. "Der Faktor lag also bei rund 2,8." Heißt: Die Zahl der Menschen, die sich ohne Schutz mit Corona infizierten, lag etwa drei Mal höher - und nicht wie vom LGL angegeben 14 Mal. "Das Verhältnis der beiden Gruppen am 17. November entsprach also in etwa dem, das sich vier Wochen später durch die Nachmeldungen ergab", sagt Haake.

Statistiker: Mehrere Faktoren verzerren Bild zusätzlich

Das LGL rechtfertigt seine Vorgehensweise in einer Pressemitteilung mit einer beispielhaften Rechnung aus dem August. Damals, sagt die Erlanger Behörde, seien die Zahlen noch belastbar gewesen. Mit der Praxis, Unbekannte einfach den Ungeimpften zuzuschlagen, habe man "deutlich näher" am tatsächlichen Inzidenzwert gelegen, die Tendenz stimme also. Statistiker Haake aber widerspricht.

"Zum einen gab es im August noch gar nicht so viele Impfdurchbrüche, es ist also nicht sinnig, so weit zurückzugehen, um ein klares Bild der Situation zu erhalten." Außerdem, so Haake, zeige sich über die Zeit hinweg, dass der Faktor zwischen Ungeimpft und Geimpft zum Stichtag bereits recht genau dem Faktor mit Nachmeldungen nach vier Wochen entspreche. "Für den Faktor zwischen Ungeimpft und Geimpft wäre es daher richtig gewesen, einfach den für die unbekannten Fälle anzunehmen, den man bei den Fällen mit bekanntem Impfstatus bereits feststellen konnte. Für die Stichtage ab dem 10. November lag der Faktor stets in etwa bei drei."

Es gibt aber noch weitere Faktoren, die die Inzidenzaufschlüsselung wohl verzerren. "Bei der Interpretation der Zahl muss auch immer die Teststrategie berücksichtigt werden", sagt Haake. "Durch 3G im ÖPNV und am Arbeitsplatz sowie durch regelmäßige Tests bei Schülern wird das Dunkelfeld der Ungeimpften stärker ausgeleuchtet." Heißt: Wo mehr getestet wird, tauchen auch mehr Infektionen auf. "Da die Impfung gerade bei der im Herbst vorherrschenden Delta-Variante gut vor symptomatischen Verläufen geschützt hat, ist davon auszugehen, dass viele asymptomatische Fälle der Geimpften unentdeckt blieben."

Doch inwieweit wurde mit den Zahlen Politik gemacht? Gesundheitsminister Klaus Holetschek bestritt den Vorwurf, mit verzerrten Daten Maßnahmen zu begründen, vehement. Die Inzidenzsaufschlüsselung sei nur ein Parameter von vielen, sagte der CSU-Poltiker. Dabei bleibt das LGL auch nach der Veröffentlichung der Zahlen. Die Statistik sei "weder fachlich noch rechtlich ein Leitindikator" gewesen, heißt es aus der Erlanger Behörde.

In der Tat tauchen Zahlen aus der Aufschlüsselung aber sogar in der Begründung zur Änderung der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung auf, aus der sich nahezu alle Pandemiemaßnahmen im Freistaat ableiten. Etwa am 24. November. "Das Infektionsgeschehen unterscheidet sich stark zwischen der geimpften und der ungeimpften Bevölkerung", heißt es dort. Exemplarisch nennt die Staatsregierung die Daten vom 17. November, damals habe die Sieben-Tage-Inzidenz der Ungeimpften bei fast 1500 gelegen - die der Geimpften hingegen bei nur rund 110. Doch diese Zahlen, das zeigen die neuen Rohdaten nun, waren verzerrt.

Seit wann wussten Söder und Holetschek von Verzerrung?

Seit wann Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Gesundheitsminister Klaus Holetschek von den Problemen wussten, ist unklar. Offenbar waren die Verzerrung der Staatsregierung aber bereits Anfang Dezember bekannt - das zumindest lässt ein Blick in die Begründungen zur Änderung der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vermuten. Während sich in der Verordnung vom 24. November und in einigen amtlichen Veröffentlichungen zuvor die verzerrte Inzidenzaufschlüsselung mit konkreten Zahlen findet, taucht am 3. Dezember nur noch die Umschreibung "ein Vielfaches" auf.

Söder aber nutzte noch am selben Tag in einer Pressekonferenz das offensichtlich falsche Verhältnis von 110:1600, um die Notwendigkeit von 2G im Einzelhandel zu untermauern - also eine drastische Einschränkung für Ungeimpfte. Kurze Zeit später stellte das LGL nach kritischer Berichterstattung mehrerer Medien die Veröffentlichung der Inzidenzaufschlüsselung ein. Plötzlich, so die Behörde, seien die Unsicherheiten zu groß geworden. Heute prangt dort, wo die Statistik früher stand, nur noch ein rotes Ausrufezeichen. Daneben steht: "Eine aussagekräftige Aktualisierung der Inzidenzen nach Impfstatus ist derzeit nicht möglich." Zwischenzeitlich wurde der LGL-Chef Walter Jonas versetzt.

Antworten darauf, wie es dazu kommen konnte und wie genau sich das Ausmaß der Verzerrungen darstellt, blieb das LGL schuldig. Allenfalls häppchenweise gab die Behörde Zahlen heraus. Auf Anfragen unserer Redaktion reagierte das LGL spät, beantwortete Fragen nicht oder unzureichend. Die Belastung durch die neue Omikron-Variante, sagte ein Sprecher, sei groß. Damit wollte die Behörde ihr Schweigen rechtfertigen.

Kritik der FDP reißt nicht ab - Kubicki fordert Söder-Rücktritt

Politisch ist der Wirbel um die Inzidenzwerte noch lange nicht beendet. Die FDP im Landtag wittert ein politisches Manöver, sprach von Verschleierungstaktik - und kündigte eine Klage an. Söders "Gerede von der 'Pandemie der Ungeimpften'" habe sich als falsch herausgestellt, die Staatsregierung das Infektionsrisiko für Geimpfte "systematisch unterschätzt". Die Liberalen sprechen weiter von einem "handfesten Skandal".

Auch auf dem bundespolitischen Parkett kam der Wirbel mittlerweile an. Am Freitag, unmittelbar nach der Veröffentlichung der Rohdaten, forderte FDP-Vize Wolfgang Kubicki gegenüber der Welt den Rücktritt des bayerischen Ministerpräsidenten. "Entweder Markus Söder wollte ein schiefes Bild über die von Ungeimpften ausgehende Infektionsgefahr zeichnen und eine Gruppe von Menschen damit amtlich stigmatisieren – oder er hat seinen Laden nicht im Griff", sagte er. "Sowohl das Eine wie auch das Andere sind ausreichende Gründe für einen Rücktritt.

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