Zeugnisse zivilen Ungehorsams

Kreuz und quer: Wie schlimm sind Trampelpfade wirklich?

19.05.2021, 19:22 Uhr
Mitten durch die Büsche ist doch viel spannender.

© imago images/Cavan Images Mitten durch die Büsche ist doch viel spannender.

Geradeaus, dann auf dem nächsten Weg nach rechts abbiegen? Oder lieber schräg über die Wiese? Kurz mal dem neu entstandenen Pfad folgen, der im Park zwischen zwei Baumgruppen verläuft? Oder neben dem asphaltierten Weg joggen, ist ja besser für die Gelenke. Wer läuft, wo bisher niemand lief, startet sie: Trampelpfade.

Die Entwicklung, die Ranger, Planer, Parkmanager und Landschaftsgärtner seit mehreren Jahren verstärkt wahrnehmen, hat sich während der Coronazeit beschleunigt. Menschen ignorieren offizielle Wege, kürzen ab, kreuzen Wiesen, bahnen sich individuelle Wege durch Hecken und Baumgruppen.

Es ist paradox: In einer Zeit, in der immer mehr Menschen kleine Fluchten und den bewussten Aufenthalt in der Natur suchen, zerfurchen sie das, weswegen sie kamen – unberührte, natürliche Flächen.

Und jetzt, im Frühling, ist die Natur Fußgängern am schutzlosesten ausgeliefert. Der Boden ist trittempfindlich, noch schafft keine dichte, feste Vegetation Barrieren. "Es ist die kritischste Zeit, gerade jetzt müsste sich die Natur regenerieren", sagt Thomas Köster, Verwalter des Englischen Gartens in München und eines der größten Parks in Europa. "Schaffen immer mehr Parkbesucher ihre eigenen Trampelpfade, dann haben wir bald keinen Park mehr, sondern ein dichtes Wegenetz mit ein paar Bäumen dazwischen." Köster schätzt, dass zu 78 Kilometern an Wegen mehr als 15 Kilometer Trampelpfade gekommen sind.


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Der Drang, neue Wege zu gehen, hat viele Gründe. Fast alle sind psychologischer Art. Klar – wer in der Coronazeit Abstand zu anderen Menschen halten will, fühlt sich besser, wenn er viel begangene Strecken meidet und seine eigene Route findet. Auch wenn diese nur zwei Meter neben dem etablierten Kiesband verläuft. Doch der Trend zum Trampelpfad hat sich über Jahre verschärft.

Läuft einer voraus, laufen andere hinterher

Forscher haben erkannt, dass sich mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Abkürzung bildet, wenn Fußgänger durch die Nutzung des Trampelpfads 20 bis 30 Prozent Wegstrecke sparen. Hinzu kommt: "Die Menschen wollen Natur unmittelbarer, unreglementierter erleben", sagt Stefan Türk, stellvertretender Leiter des Kölner Instituts für Outdoor Sport und Umweltforschung: "Wir erleben eine starke Hinwendung zum direkten Erleben in der Natur", sagt er, "es gibt einen Reiz des Wilden."

Das erkenne man an der Entwicklung von Sportarten wie Trailrunning, Free Skiing, Wildschwimmen, Skitourengehen oder dem Wander-Boom. Zwar bleibe die überwältigende Mehrheit der Sportler auf Wegen und Pisten, doch hätten Abweichler eine Pionierfunktion. "Wenn ein paar Mountainbiker einen neuen Single Trail im Wald angelegt haben, kann man sicher sein, dass andere dem Trail folgen werden."

Laufen Menschen oder Tiere abseits bestehender Wege, hinterlassen sie Spuren. Kaum wahrnehmbare zunächst, etwas niedergedrücktes Gras, geknickte Äste, festgetretener Boden. Folgen andere, verstärkt sich die Wirkung. Die Spur wird erkennbar. Die Schuhe der Nutzer pressen den Bewuchs zunächst platt auf den Boden, dann drücken sie ihn in die Erde. Sohlen reißen die Grasnarbe auf, hinterlassen blanke, komprimierte Erde. Untersuchungen ergaben, dass nur etwa 15 Spaziergänger binnen weniger Stunden nötig sind, um auf einer feuchten Wiese einen Trampelpfad entstehen zu lassen.

Jürgen Götte ist Grünflächenchef des Bezirks Berlin Mitte, zuständig für den Hauptstadtpark Großer Tiergarten. "Schwerer als der reine Flächenverlust durch die Pfade wiegt die Zerschneidung und Zerstörung von Lebensräumen für die Tiere im Park. Es gibt kaum noch Ruhezonen, an denen Vögel brüten oder Säugetiere sich zurückziehen können. Wiesen regenerieren sich nicht mehr, die Vegetation wird einförmiger."

Um "alternative Wege" zu verhindern, greifen Landschaftsarchitekten, Ranger und Parkverwalter in die Trickkiste. Im Englischen Garten versuchte es Thomas Köster schon mal damit, Pferdemist auf illegalen Wegen auszubringen. Er errichtete Zäune. Legte Baumstämme quer. Rammte Poller mit knöchelhohen Bandeisen in den Boden. Pflanzte Sträucher und Bäume mitten auf Pfade. Stellte Hinweisschilder auf. "Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Blockieren wir einen Trampelpfad, ignorieren die Leute das, klettern über Äste, trampeln die frisch gepflanzten Sträucher nieder. Oder es bildet sich rasch ein neuer Weg, ein paar Meter daneben."

Zeugnisse zivilen Ungehorsams

Aber sind Trampelpfade wirklich Zeugnisse zivilen Ungehorsams? Ist, wer vom rechten Weg abkommt, ein Rebell? Letztlich können Planer gegen die Wege ankämpfen – oder sich einen Schritt zurücknehmen. Deshalb gewinnt besonders bei Neuplanungen von Parks, Stadtvierteln oder Gebäudekomplexen eine zweite Denkschule an Einfluss. Sie propagiert, keine Wege mehr vorzugeben. Die Planer beobachten, welche Trampelpfade sich entwickeln, orientieren sich daran und beziehen die Routen in ihre Weg-Entwürfe ein. Ein Ausweg? Ein Weg des geringsten Widerstandes.

Das deutsche Wort Trampelpfad spiegelt übrigens das Gewalttätige, Rücksichtslose des Abseitsgehens wider. Andere Kulturen nutzen andere Begriffe, um die ungeplanten Pfade zu beschreiben: Im Französischen heißen die wilden Wege "lignes de désir", Wunschlinien also. Auch im Englischen hat sich der Begriff "desire path" durchgesetzt. Wege, die einen Wunsch erfüllen, ja vielleicht sogar ein Verlangen stillen, ein Sehnen. Eigentlich ganz schön. Vielleicht ist es ja nur eine Frage der Perspektive.


Die Trampelpfadformel:
Der Physiker und Soziologe Dirk Helbing von der ETH Zürich forscht seit 25 Jahren zu den wilden Wegen: "Ein komplexes Thema, weil rationale und irrationale Gründe zusammenspielen", sagt er.

Ziemlich klar sei, dass ein Trampelpfad entstehe, wenn der Fußgänger durch seine Nutzung 20 bis 30 Prozent der Wegstrecke spare. "Rechtwinklige Kreuzungen angelegter Wege widersprechen der Natur der Menschen: Treffen zwei Wege aufeinander, bildet sich in der Regel eine Y-förmige Gabelung."

Helbing hat eine Formel entwickelt, die weitere Faktoren einbezieht, um das Trampelpfadpotenzial zu erhellen. "Ein Trampelpfad ist ein Kompromiss zwischen Weglänge, Untergrundbeschaffenheit, Sichtbarkeit, aber auch der Attraktivität."

Eine Rolle spiele zudem, dass Trampelpfade häufiger begangen würden, je deutlicher sie verlaufen.

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