Tour zur Fundstelle

Vor 30 Jahren: Nürnberger finden Ötzi im ewigen Eis

14.9.2021, 15:53 Uhr
Vor 30 Jahren: Nürnberger finden Ötzi im ewigen Eis

© Foto: Martin Rattini/dpa

Ein kurzer Abstieg, dann liegt sie vor den Bergsteigern: die Mulde, in der das Nürnberger Ehepaar Simon den Archäologen dieser Welt vor 30 Jahren ein Geschenk von unschätzbarem Wert gemacht hat. Genau hier, an dieser unscheinbaren und schwer zugänglichen Stelle entdeckten die Wanderer eine mumifizierte Gletscherleiche, deren Bedeutung erst nach einigen Umwegen ans Tageslicht trat.

Einen Umweg muss auch einlegen, wer Ötzis Fundort mit eigenen Augen sehen will: Von Vent, dem höchstgelegenen Dorf des Ötztales, bis zur Fundstelle sind es 1300 Höhenmeter und rund 25 Kilometer, ehe kurz vor dem Ziel noch eine kleine Kletterei folgt. Fünf bis sieben Stunden, je nach Kondition, sind nötig, um sich dem Phänomen Ötzi zu nähern.

Pfeil in der Schulter

Eine Frage drängt sich am 3210 Meter hoch gelegenen Tisenjoch, wie der Übergang vom Südtiroler Schnalstal ins Ötztal genannt wird, geradezu auf: Was hat den von zahlreichen Krankheiten geplagten, von einem Pfeil im linken Schulterblatt noch dazu schwer verletzen und zudem für die damaligen Verhältnisse uralten Mann bewogen, den Alpenhauptkamm zu überqueren?

Die einzig ehrliche Antwort lautet: Wir wissen es nicht und werden es wohl nie erfahren. Möglicherweise war Ötzi tatsächlich ein Schafhirte, wie es sie heute noch im oberen Ötztal gibt. Jahrtausende sind die Weiderechte alt, seit Menschengedenken treiben die Schnalstaler im Juni ihre Tiere über den Berg. Im September geht es wieder zurück nach Südtirol.

Gegen diese These sprechen gewichtige Argumente, vor allem Ötzis Ausrüstung. Denn der 1,54 Meter kleine Mann führte Gegenstände mit sich, die eher auf einen Häuptling oder einen Schamanen schließen lassen. Sein Kupferbeil zum Beispiel: Ein solches Werkzeug war in der Jungsteinzeit selten. Ob der Gletschermann früher also Herrscher, Medizinmann oder Hirte war, bleibt offen.

Jede dieser Theorien hat ihre Verfechter. Vor Ort im Ötztal wird dies besonders deutlich. Auch dass sich in den vergangenen Jahrzehnten die Vertreter der jeweiligen Thesen teils heftig attackiert haben, ist nicht zu überhören. Barbara Haid kann darüber einiges erzählen.

Alle rätselten

Ihr 2019 verstorbener Vater war als Heimatautor und Volkskundler eine lokale Berühmtheit – und stets bemüht das Phänomen Ötzi jenseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auch kulturell einzuordnen. Hans Haid wollte Ötzi als Teil unserer Entwicklung eingeordnet wissen.

"Er wurde dafür teilweise sehr heftig angefeindet, das war schon bemerkenswert", erinnert sich seine Tochter. Barbara Haid besucht regelmäßig die Fundstelle. Ihre kritische Distanz zum mancherorts anzutreffenden Ötzi-Hype ist wohltuend.

Vater Hans Haid saß übrigens zwei Tage nach der Entdeckung der Gletschermumie, also am 21. September 1991 auf der Similaunhütte – und somit nur eine Stunde von dem Leichenfund entfernt. Am Tisch der Berghütte traf sich eine illustre Runde: Reinhold Messner, bereits in den 90er Jahren Bergsteiger-Legende, Hans Kammerlander, ebenfalls Top-Alpinist, und Hüttenwirt Markus Pirpamer.

Wenn Pirpamer sich an diesen Abend erinnert, muss er schmunzeln: "Damals haben alle gerätselt, was es mit der Leiche auf sich hat." Pirpamer war nach dem Ehepaar Simon der dritte Mensch, der den Mann im Eis zu Gesicht bekam. "Mir war schon klar, dass das kein normaler Toter war, 150 Jahre war der mindestens da gelegen, so meine Annahme."

Heute wissen wir, dass Pirpamer um 5150 Jahre daneben lag. Denn Ötzi lebte vor 5300 Jahren. Dass es überhaupt möglich war, die Mumie zu untersuchen, hat viel mit dem Pflichtgefühl des Hüttenwirts und dem der österreichischen Gendarmerie zu tun. Pirpamer verständigte, nachdem er die Leiche notdürftig abgedeckt hatte, die Polizisten in Österreich und die Carabinieri in Südtirol. Denn ob der Körper auf italienischem oder eben auf Tiroler Grund lag, war unklar.

Schritt zur Weltsensation

"Wie immer haben die Österreicher sich an die Arbeit gemacht", berichtet Pirpamer und fügt hinzu: "Wer weiß, wo und in welchem Zustand Ötzi sonst gelandet wäre." So ging es erst mit dem Helikopter nach Vent, ehe der Leichnam immer noch in gefrorenem Zustand in die Gerichtsmedizin Innsbruck gelangte. Nur dadurch war der Schritt zur Weltsensation möglich. Die Experten um den Seziertisch wussten relativ rasch, dass sie hier einen einmaligen Fund vor sich hatten.

Aber hat Ötzi das Leben der Bewohner im Tal nachhaltig verändert? "Nein, sicher nicht. Vielleicht hilft er, unsere Wurzeln zu bewahren", hält Hüttenwirt Pirpamer den Ball bewusst flach. Schließlich sei der Mann aus dem Eis mit der Bergwelt eng verbunden gewesen, auch für die Verbindung vom Schnalstal ins Ötztal stehe der kleine große Unbekannte.

Jegliche PR-Aktionen rund um die Gletschermumie lehnt der Bergführer, Hütten- und Landwirt dagegen ab. Er schenkt keinen Ötzi-Schnaps aus und blickt entsprechend reserviert auf die zahlreichen Ötzi-Standorte drunten im Tal. Allen voran in Bozen wird die Sensation gnadenlos vermarktet, dort trägt man sich derzeit mit dem Gedanken, ein neues Museum für viel Geld zu bauen. Ötzi funktioniert eben hervorragend als Geschäftsmodell. Hunderttausende wollen Jahr für Jahr einen Blick auf die Mumie erhaschen.

Eine Spur kleiner geht es im Ötzi-Dorf in Umhausen im unteren Ötztal zu. Doch auch hier kann Geschäftsführer Leonhard Falkner Jahr für Jahr 50 000 Besucher begrüßen. Auf 12 000 Quadratmetern zeigen Falkner und sein Team, wie das Leben in der Jungsteinzeit abgelaufen sein könnte. "Es geht uns darum, authentisch zu bleiben", betont der Einheimische.

Anders als Hüttenwirt Pirpamer ist Falkner davon überzeugt, dass seit dem Fund einiges anders läuft: "Ötzi hat unser Leben schon verändert", sagt er. Das gleichnamige Dorf wächst deshalb Jahr für Jahr, sogar Tiere, wie sie in den Siedlungen der Steinzeitmenschen wohl gehalten wurden, sind dort zu sehen. Und eine kleine, aber feine Ausstellung über 30 Jahre Ötzifund.

Botschafter der Alpen

Schäfer Manuel hingegen, der vier Monate im Jahr im Grenzgebiet zwischen Nord- und Südtirol verbringt, zieht es nicht ins Ötzi-Dorf, er blickt lieber nach vorn: "Mal schauen, was die Zukunft bringt." Die Wanderweidewirtschaft ist schon zu Ötzis Zeiten ein schweres Geschäft gewesen – und das gilt bis heute.

Darauf weist auch der in Bamberg lebende Alpenforscher Professor Werner Bätzing hin. Ötzi könne ein Botschafter für das Leben in den Alpen sein. "Ich habe den Eindruck, dass diese Realität des Alpenraums kaum mehr wahrgenommen wird."

Vor 30 Jahren: Nürnberger finden Ötzi im ewigen Eis

© Foto: imago images/imagebroker

Die Wanderung der Schafe vom Schnals- ins Ötztal ist laut Bätzing ein Beispiel für eine alte Wirtschaftsform, "bei der Ökonomie, Ökologie und Kultur auf eine positive Weise eng miteinander verbunden sind". Darauf hinzuweisen, das könnte den Mann aus dem Eis auch im vierten Jahrzehnt nach der Entdeckung interessant machen.

Doch zurück zur Fundstelle auf 3210 Metern Höhe: Wer sich dort, also jenseits der Marketingstrategien, mit dem Zufallsfund der Nürnberger Familie Simon befasst, gerät ins Nachdenken.

Was kann uns ein Mensch, der vor langer Zeit weit entfernt von jeglicher Zivilisation mit bescheidensten Mittel ums Überleben kämpfte, mitteilen? Der Abend auf der Similaunhütte und der Austausch mit dem Hüttenwirt über Ötzi liefern eine plausible Antwort: Als Kulturbotschafter für den Alpenraum hat uns Ötzi auch nach 5300 Jahren noch viel über bewahrenswerte Traditionen zu sagen.

Die Reise zum Fundort wurde vom Ötztal-Tourismus unterstützt.

Keine Kommentare