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Das Virus vor Corona: Die Aidshilfe Nürnberg kämpft seit 35 Jahren gegen HIV

11.3.2021, 11:28 Uhr
Neben Kondomen verteilt die Aidshilfe Nürnberg auch Postkarten zur Prävention. Tipp auf der Rückseite: Regelmäßig testen lassen.

© Christian Mückl Neben Kondomen verteilt die Aidshilfe Nürnberg auch Postkarten zur Prävention. Tipp auf der Rückseite: Regelmäßig testen lassen.

Im Jahr 1985 klingelte in Nürnberg ein Telefon. Michael Aue hob ab. Peter war dran. Der Freund sprach aus San Francisco. Die Stadt stand für Freiheit und Toleranz wie kaum eine andere – gerade für schwule Männer. Peter sagte: „Ich hab´ Aids.“

Das war ein Schock. Bedeutete das positive HIV-Ergebnis doch damals noch den Tod. Die lebensrettenden Tabletten wurden erst Jahre später erfunden. Zu spät für Peter, der am 28. April 1988 in San Franzisco starb.

Die Geschichte hat aber auch mit dem Leben zu tun. Denn Michael Aue, studierter Volljurist, der als Regieassistent Anfang der 1980er Jahre aus Berlin nach Nürnberg kam, ergriff nach dem Anruf aus Amerika die Flucht nach vorn. Sie hieß „Noch leb’ ich ja – ein Aidskranker erzählt“. Das war der Titel seines ersten Erfolgs als Filmemacher.
„Viel zu wenig“ war bekannt

"Viel zu wenig" war bekannt

Vor wenigen Wochen wurde Michael Aue 70 alt. Filme für die Medienwerkstatt Franken macht er munter weiter. Aber auch für die soziale Szene in Franken ist der gebürtige Niedersachse eine Schlüsselfigur. Dass er im Jahr 1985 die heutige Aids-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth (AH) mitbegründet hat, auch das hat mit der Erkrankung von Peter aus San Francisco zu tun. Was war damals über die Krankheit bekannt? „Viel zu wenig“. Michael Aue hat seinen infizierten Freund auf dessen Aufklärungstournee zu deutschen Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen mit der Kamera begleitet. Es ging nicht nur um den Film. Es ging auch um Freundschaft.

Im Doppelpack mit seiner zweiten Doku, „Im Grunde sind wir Kämpfer – Alltag mit Aids“, wurde Aues Werk Ende der 80er Jahre bei den Filmfestspielen der „Berlinale“ gezeigt. „Peter meinte, das sei eine gute Idee, dass er noch irgendwas machen kann in seinem verbleibenden Leben – über Aids reden“, erinnert sich der Filmemacher.

Die „Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ kaufte das Pionierwerk an. Es wurde deutschlandweit verbreitet. Eine englische Fassung lief im Fernsehen in den USA.
Ist HIV und Aids noch ein Virus-Thema in Zeiten von Corona?

Ja. Sonst würden 14 hauptamtliche Mitarbeiter der AH nicht von den Räumlichkeiten in der Nürnberger Altstadt aus unterwegs sein, etwa um Betroffene im „betreuten Einzelwohnen“ zu unterstützen, die ihr Leben trotz psychischer Probleme oder einer Sucht-erkrankung meistern.

Ehrenamtliche Arbeit ist ein Fundament

36 Plätze sind „ganzjährig belegt“ , sagt Manfred Schmidt vom Vorstand des Vereins. Die Nachfrage sei enorm, es gibt eine Warteliste. Aufklärungsarbeit in Schulen, HIV-Schnelltests und Beratungen bietet die Aidshilfe zudem an, die zur Dachorganisation der Deutschen Aids Hilfe gehört, einer in den 1980er Jahren entstandenen Berliner Initiative.
Von Anfang an waren ehrenamtliche Mitarbeiter das Fundament. Heute unterstützen über 150 Mitglieder in der Metropolregion das hiesige Projekt. Auch das Nürnberger Restaurant „Estragon“ in der Jakobstraße 19 entstand durch die Aidshilfe und gibt Erkrankten eine Chance.

Filmemacher Michael Aue hat die Aidshilfe in Nürnberg in den 80er Jahren mitgegründet.

Filmemacher Michael Aue hat die Aidshilfe in Nürnberg in den 80er Jahren mitgegründet. © Bernd Telle

Dabei ist die AH in Nürnberg nicht alleine mit ihrem Engagement. Zum Thema HIV bieten sowohl die Aidsberatung der Stadtmission als auch das Gesundheitsamt Hilfen für alle an.
Der HI-Virus wirkt nicht mehr tödlich auf das Immunsystem, seit in den 1990er Jahren Tabletten entwickelt wurden, die Folgen der Krankheit eindämmen.
Das war 1985 anders, als Michael Aue mit Gleichgesinnten im Nürnberger „Kulturladen Nord“ die Aidshilfe Nürnberg mitgegründet hat. Sieben Leute braucht es zur Vereinsgründung. Die fanden zusammen. „Das erste, was wir eingerichtet haben, war ein Beratungstelefon. Also noch gar nicht die Betreuung von Kranken oder Sterbenden. Es ging um Information und Beratung und darum, ein Zeichen auch gegen die Diskriminierung zu setzen“, erzählt Aue.

Heute ist die Aidserkrankung vor allem dann „schlimm, wenn sie zu spät entdeckt wird“, berichtet Manfred Schmidt aus der Praxisarbeit: Lungenschäden, Augenschäden und ähnliche Beeinträchtigungen seien dann nur noch schwer zu behandeln: „Es ist sinnvoll, sich öfter testen zu lassen.“
Nach wie vor gehören schwule Männer und queere Menschen zur größten Zielgruppe im Engagement der Aidshilfe, wobei es zum Beispiel auch eine Frauengruppe gibt.

Das Thema wurde heiß gekocht

Über den eigenen Tellerrand zu blicken und mit Minderheiten um Rechte zu kämpfen, ist Michael Aue ein Anliegen. „Plötzlich war ich Gründungsmitglied von Kassandra“, erinnert er sich an die Anfänge der Nürnberger Beratungsstelle für Prostituierte. „Es gab Solidarisierung.“
Der Fluch des HI-Virus brachte neue Verbündete zusammen. So kam auch die Suchthilfe Mudra mit ins Boot: „Vorher hatten die Schwulen mit den Junkies nix zu tun. Und dann waren da plötzlich diese drei Gründergruppen, die Prostituierten, die Schwulen und die Drogengebraucher.“

Im Nürnberger „Kulturladen Nord“ im Jahr 1985 „gab es einen Telefonanschluss, den man für Beratungsgespräche benutzen durfte und einen Raum, wo man sich einmal die Woche zum Meeting traf“, erzählt Aue. „Die Kulturladenbewegung hat ja immer versucht, kulturelle, aber auch politische Initiativen zu unterstützen. Da waren dann nach Tschernobyl auch die ,Mütter gegen Atomkraft´ mit dabei.“

Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten: die rote Schleife.

Symbol der Solidarität mit HIV-Infizierten: die rote Schleife. © Jens Kalaene, dpa

Wie wurde das Beratungstelefon überhaupt publik, in Zeiten vor social media? „Geld sammeln, ´nen Flyer machen, den in Schwulenkneipen verteilen und dann ging man natürlich an die Presse“, erzählt der Filmemacher über die Anfangstage der Bewegung. „Das Thema wurde ja heiß gekocht.“

Konkret sagte der CSU-Politiker Peter Gauweiler im Zuge der Aids-Debatte im Jahr 1987 über HIV-positive Menschen im Magazin Stern: „Mei, des sind Aussätzige“. In einem umstrittenen „Maßnahmenkatalog“ forderte die bayerische Staatsregierung unter anderem die Registrierung und die „Absonderung auf Zeit“ von positiv Getesteten.

Andererseits wuchs der Kreis der Engagierten, die sich in Nürnberg gruppierten. „Es war ein bisschen wie bei ,Fridays for Futuré’, findet Aue: „Plötzlich gibt es ein Thema, das viele unterstützenswert finden.“


Was machen die ganzen Frauen hier?

Noch heute sind es nicht nur schwule, bisexuelle oder andere queere Menschen, die sich aus sozialen oder politischen Gründen bei der Aidshilfe engagieren. „Anfangs haben wir uns in der schwulen Selbsthilfegruppe gedacht, was machen die ganzen Frauen hier? Aber dann gab’s auch viele, die sich gerne von Frauen begleiten haben lassen, weil die einfühlsam waren und Veständnis hatten.“ HIV-positive Menschen stoßen bis heute auf Vorbehalte.

Im Magazin „Denkraum“ der Aidshilfe zeigt sich ein Mann namens Sascha aus Nürnberg, dessen Behandlung eine Fachärztin ablehnte, schockiert über deren Begründung: „Es gibt keinen separaten Raum – ich wurde gebeten eine andere Praxis aufzusuchen.“

Wer heute HIV-positiv ist und sich medikamentös behandeln lässt, ist für andere nicht ansteckend, informiert Fachvorstand Manfred Schmidt. Er kann auf 19 Jahren in der Aidshilfe zurückblicken. Nicht zuletzt seien die Vorbehalte mancher Leute gegenüber HIV-positiven Menschen ein Motiv für den Verein „warum es uns überhaupt immer noch gibt: Betroffene haben Angst, abgestempelt zu werden.“

Mit seinem Film "Noch leb´ ich ja - ein Aidskranker erzählt" begann nicht nur die Karriere von Michael Aue als Filmemacher, er drehte damit auch eine wegweisende Dokumentation über Betroffene.

Mit seinem Film "Noch leb´ ich ja - ein Aidskranker erzählt" begann nicht nur die Karriere von Michael Aue als Filmemacher, er drehte damit auch eine wegweisende Dokumentation über Betroffene. © Günter Wittmann

Sprüche wie „Süßer Typ“ oder „Geiler Kerl“ stehen auf den frechen, bunten Postkarten, mit denen die Aidshilfe für das „Positiv zusammenleben“ wirbt. Auf einer Karte mit der Frage „Darf ich bei dir einziehen?“ steht auf der Rückseite gedruckt: „Suche nette WG. Bringe eine Topfpflanze und überragende Kochkünste mit. Bin übrigens HIV-positiv. Und gehe davon aus, dass das kein Problem für dich ist. Im WG-Alltag gibt’s nämlich kein HIV-Ansteckungsrisiko.“
„Ich bin kein Vereinsmeier“

Michael Aue hat neben seiner Arbeit als Filmemacher für die Deutsche Aids-Hilfe 20 Jahre lang Helfer in Beratung und Sterbebegleitung geschult. Auch aus dem persönlichen Umfeld heraus hat er „wohl ein halbes dutzend Menschen“ im Todesmoment erlebt.
„Shantiprojekt“ hieß die Initiative, die seinen verstorbenen Freund Peter in San Francisco auf seinem letzten Weg begleitet hat. „Shanti“, ein Wort aus dem Sanskrit, bedeutet „innerer Friede“.

„Shanti“ war ein Anstoß für Michael Aue, über den eigenen Schatten zu springen. „Ich bin überhaupt kein Vereinsmeier“, sagt er, „doch die Aidshilfe war ein Umschwung, wo ich plötzlich das Gefühl hatte: das gibt Sinn. Als vermummter Autonomer erreicht man nicht viel. Im Verein schon.“

Info:

Aids-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth e. V., Tel. 09 11/2 30 90 35 info@aidshilfe-nuernberg.deinfo@aidshilfe-nuernberg.de
Michael Aues Filme sind in der Mediathek der Medienzentrale Franken abrufbar: www.mz-franken.de

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