Die Deutschen schrieben fleißig an Adolf Hitler

8.1.2008, 00:00 Uhr
Die Deutschen schrieben fleißig an Adolf Hitler

© Ullstein

«Ich glaube an Gott den Vater, allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden und an Adolf Hitler, seinen auserwählten Sohn, den er auserkoren hat, um sein deutsches Volk von der Schlangenbrut und Otterngezücht (Juden, Pfaffen und Dynastien) durch jahrhundertelange Zerrissen- und Niedergetretenheit und fortschreitende Verelendung zu erlösen . . .», schrieb am 7. September 1938 ein seit sieben Jahren arbeitsloser Wiener Hotelportier mit der Anrede «Mein Führer!» an Adolf Hitler.

Aus einem riesigen Bestand an Briefen an Hitler hat der an der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale unterrichtende Historiker Henrik Eberle einige Hundert ausgewählt und in einem kommentierten Band erstmals veröffentlicht. Gefunden hat er das ganze Konvolut im ehemaligen Sonderarchiv des Russischen Staatlichen Militärarchivs in Moskau. Die Mitarbeiter der «Trophäenkommission» der Roten Armee hatten die Briefsammlungen bei Kriegsende in der Privatkanzlei Hitlers und in der Staatskanzlei entdeckt.

Flut von Huldigungen

Mit der Neuformierung der NSDAP im Jahre 1925 begann eine stetig anschwellende Flut von Briefen meist privater Personen an Hitler persönlich, manche auch an seine Schwester. Es ging um den Ausdruck der Verehrung, um Ratschläge, Anerkennung, Dank, um Huldigung und in den letzten Kriegsmonaten um Vorschläge und Entwürfe von Wunderwaffen.

Alle Briefe enthalten die authentischen Namen der Absender. Oftmals sind die Reaktionen der Kanzleileitung wiedergegeben. Sparsame Kommentare Henrik Eberles stellen die historischen Zusammenhänge her, ordnen die exemplarisch ausgewählten Briefe in eine Gesamtschau der vom Herausgeber eingesehenen Korrespondenz ein. «Ganz gewöhnliche Deutsche» haben über zwei Jahrzehnte zu 90 Prozent Zustimmung, Anfeuerung, und Führervertrauen bekundet. In diesem Ausmaß ist das bisher nicht nachlesbar gewesen. Wir wissen von der Stimmung in der Bevölkerung eher etwas aus den «Berichten aus dem Reich», die die Sicherheitsbehörden verfassten. Hier aber kommt das Volk unmittelbar zu Wort. Die Wortwahl, Anreden, Grußformeln geben mehr als gefilterte Berichte der Gestapo und des SD das Ausmaß von zustimmender, zur Vernichtung bereiter Aggressivität wieder. Wenige mutige Ausnahmen, in denen sogar vereinzelt um Milde oder Gerechtigkeit gegenüber Juden gebeten wurde, bestätigen nur die Regel.

Der Herausgeber sagt im Gespräch, dass die Geschichte des Nationalsozialismus anhand dieser Funde nicht umgeschrieben werden müsse. Aber die bisherigen Erkenntnisse werden gleichsam durch den Volksmund unterlegt, bestätigt und die ganze damalige Zeit wird auf eine gespenstische Weise gegenwärtig.

Henrik Eberle weiß, dass die Forschungslage noch keine vergleichende Studie über «Briefe an Diktatoren» erlaubt. Immerhin schätzt er, dass gegenüber etwa 90 Prozent Briefen an Hitler, die Zustimmung ausdrückten, die Eingaben an Ulbricht oder Honecker zu 90 Prozent Kritik enthielten. Für Schlüsse aus solchen zunächst geschätzten Zahlen gibt es noch keine ausreichende Forschungsgrundlage - interessant wären sie schon!

Die Einleitung des Herausgebers weist auf die Bedeutung dieses Aktenfundes für die sozialpsychologische Beurteilung des Bevölkerungsverhaltens während der Naziherrschaft hin. Offenbar haben sich Führung und Volk im Dritten Reich gegenseitig radikalisiert, das Echo der Propaganda hat die Propagandisten angefeuert, zunächst die verbale Gewaltspirale weiter zu drehen, bis der Schritt zu tatsächlicher Gewalt aus der Bevölkerung gefordert wurde.

Die Briefe stellen darüber hinaus eine unschätzbare Quelle für die Erforschung der «lingua tertii imperii", also der Umgangssprache oder des «Volksmunds im Dritten Reich» dar. Diese Sprache heute zu lesen, verstärkt den Eindruck von der Ungeheuerlichkeit der Briefinhalte nachdrücklich - es ist die Sprache einer mörderischen, germanisch-mythischen Folklore. HARALD LOCH

Henrik Eberle (Hg.): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch-Gladbach. 476 Seiten 19,95 Euro.