Hans Neuenfels inszeniert «Medea in Corinto»

9.6.2010, 00:00 Uhr
Hans Neuenfels inszeniert «Medea in Corinto»

© Lobinger

Und auch Regie-Altmeister Hans Neuenfels lässt diese Frau offenbar ein Leben lang nicht los. 1976 hat er die »Medea« von Euripides in Frankfurt inszeniert, 1994 am Wiener Burgtheater Grillparzers Version »Das goldene Vlies.« Ihm ging und geht es immer auch darum, eine Lanze zu brechen und Medea, die mordende Mutter, als humanes Wesen zu zeigen. Aus dieser Absicht erschließt sich auch, weshalb Neuenfels nicht Nein sagen konnte, als ihm angeboten wurde, Giovanni Simone Mayrs 1813 in Neapel uraufgeführte Oper »Medea in Corinto« an der Bayerischen Staatsoper zu inszenieren.

Denn Komponist Mayr und Librettist Giuseppe Felice Romani behandeln Medea fast zärtlich. Bei ihrer ersten Arie wird sie einfühlsam von einer Solo-Violine begleitet, ganz anders als man dies bei einer Gift und Galle spuckenden Megäre erwarten würde. Vor der Ermordung ihrer Kinder schenkt ihr der Komponist eine Szene, in der die widersprüchlichsten Gefühle sie fast zerreißen, die Untaten selber zeigt die Oper nicht direkt.

Trotz ihrer packenden Thematik war das Werk lange Zeit so gut wie vergessen, bevor es letzten Herbst das Theater St. Gallen – mit David Alden als Regisseur – wiederentdeckte. Neuenfels, der 1974 mit einer kontrovers-spektakulären Neudeutung von Verdis »Troubadour« in Nürnberg zum ersten Mal eine Oper inszenierte, gab damit bei der Premiere am Montag sein spätes Münchner Debüt – im Juli folgt mit Wagners »Lohengrin« auch noch sein Einstand in Bayreuth

Der 69-Jährige trifft in »Medea« immer dann die richtige Entscheidung, wenn er sich ganz auf seine hervorragende Hauptdarstellerin Nadja Michael verlässt. Die 41-jährige, groß gewachsene und schlanke Sopranistin besticht im schlichten schwarzen Gewand nicht nur durch ihre attraktive, heutige Erscheinung – sie hat vor allem eine großartige Stimme, die von der zärtlichsten Regung bis zur Wahnsinnsattacke allen Emotionen souverän und scheinbar mühelos die charakteristische Färbung gibt.

Wenn sie die Götter der Unterwelt beschwört und jene Schlange bändigt, die das tödliche Gift auf Kreusas Gewand spritzt, würde sie auch auf einer leeren Bühne maximale Wirkung erzielen. Doch Neuenfels hat zusammen mit Anna Viebrock ein mächtiges, dreigeschossiges Bauwerk auf die Bühne gewuchtet, ein Symbol für den theoretischen Überbau, mit dem er seine Inszenierung befrachtet. Ein Erdgeschoss aus nackten Betonstelen trägt eine Belle-Etage mit mächtigen klassizistischen Türportalen. Weit oben, man muss dafür schon den Kopf in den Nacken legen, sitzt, als sei es ein Baustein aus Monopoly, ein biederes Häuschen, das bis zum Finale ohne Funktion bleibt.

Neuenfels will so – und auch in den entsprechend heterogenen Kostümen – die Betrachtungsebenen kreuzen: Die Antike, das Biedermeier als Entstehungszeit der Oper und die Gegenwart sollen sich mischen – ein Ansatz, unter dem die mythologisch schlanke Story ins Ächzen gerät und für den Mayrs Musik auch nicht genügend Substanz liefert. Denn diese beschränkt sich auf gekonnt gemalte subjektive Stimmungsbilder, lädt Situationen emotional auf und balanciert damit ein wenig unentschlossen auf der Schwelle zwischen Klassik und Romantik. Vor allem aber mangelt es der Oper an dramaturgischer Stringenz, in vielen Szenen singen – eher noch im Stile Gluckscher Vor-Klassik – die Figuren ihre Gefühle breit aus; die Handlung wird dabei aber nicht vorangetrieben, die Oper scheint auf der Stelle zu treten.

Oben Eheglück, unten wird gefoltert

Barock- und Mozartspezialist Ivor Bolton am Pult des Bayerischen Staatsorchesters konnte mit einer engagierten und vitalen Deutung das Manko dieser »Medea« locker wettmachen. Neuenfels’ Regie aber kann die dramaturgischen Schwächen nicht überwinden: Er zeigt eine militaristische, fremdenfeindliche Gesellschaft, in der im Untergeschoss Schwarze gefoltert werden, während ein Stockwerk höher Elena Tsallagova (etwas schrill in der Stimmfärbung) als Kreusa ihr zukünftiges Ehe-Glück mit dem bieder-farblosen Karriere-Militär Jason (solide, aber ohne Glanz: Ramón Vargas) besingt.

Die Dienerschaft ist bewaffnet, der gesanglich hervorragende Chor trägt Militärkluft, ein Menschenleben (unter den Statisten) ist nicht viel wert, die offizielle Staatsmacht in Gestalt des greisenhaft wunderlichen König Kreons (Alastair Miles) erodiert – wir ahnen es, was Neuenfels uns sagen will: Es ist die gesellschaftliche Gewalt, die Medea zum Äußersten und damit zum Mord treibt. Mit solchen Thesen konnte man in den 60er und 70er Jahren provozieren, heute wirken sie so abgestanden wie Neuenfels’ symbolistisch-surreale Bildchiffren. Die Regie hat uns diese »Medea« nicht nähergebracht, aber zum Glück ist dies der wunderbaren Nadja Michael gelungen. Thomas Heinold