„Medea in der Stadt“ an der Berliner Volksbühne In Charkow brüllt der Macho

23.11.2005, 00:00 Uhr
„Medea in der Stadt“ an der Berliner Volksbühne In Charkow brüllt der Macho

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So sieht zumindest Regisseur und Theaterberserker Andrij Zholdak die Verhältnisse. Momente des Umbruchs und der sozialen Verwerfungen in seiner ukrainischen Heimat hämmert er in Schreibmaschinen-Stakkato auf Gaze-Vorhänge: als kurze Szenenanweisungen seiner ersten kompletten Inszenierung — für ein Gastspiel war er bereits mal da — an der Berliner Volksbühne.

Die trägt den Titel „Medea in der Stadt“, der sowohl auf Euripides als auch auf Heiner Müllers „Medeamaterial“ verweist. Doch der Rückgriff auf die antike Story um die verlassene Ehefrau und Kindsmörderin Medea, um Jason und das Goldene Vlies ist ebenso wie der Verweis auf die ukrainische Gegenwart für Zholdak und seine rund 30-köpfige Theatertruppe nur ein Aufhänger für hemmungsloses Aktionstheater, das sich an diesem Premierenabend über fünf Stunden hinzieht.

Und die sind wahrlich eine Folter für alle Beteiligten. Zholdak baut — als eine Art Billig-Kopie der Volksbühnen-Container-Ästhetik — eine Wohnung, in der sich alle Wut und aller Hass der durch die Zeitenwende orientierungslos gewordenen Männer Bahn bricht.

Narratives Theater interessiere ihn nicht, hat Zholdak im Vorfeld verkündet, aber selbst das ist noch eine trollige Umschreibung der Material- und Menschenschlacht, die hier tobt. Nun, das erste satzähnliche Gebilde dieses Stücks wird nach ungefähr einer Stunde gesprochen, zuvor gab es in der billigen Bühnenbehausung schon einige (Party-)Orgien, unter anderem wurde eine leibhaftige Kuh auf die Bühne geführt und deren Pappkopie unter Einsatz von viel Theaterblut von drei kreischenden Prostituierten zersägt. Ach ja, die Frauen: Sie sind bei Zholdak sowieso alle hysterische, kürzest berockte Flittchen und werden von den Männern mit Vorliebe verprügelt oder gleich im Wortsinn an die Wand geklatscht.

Die Frauen an die Wand geklatscht

Eine kräftiger Mann, laut Programmzettel wohl Kreon (Frank Büttner), schmeißt unter viel Gebrüll eine komplette Wohnungseinrichtung aus dem Fenster, samt Großgeräten wie Kühlschrank und Badewanne. Nachdem in einer neuen Szene die Wohnung frisch bezogen und wieder eingeräumt wurde, geht das Spiel von vorn los, und als die Wohnung endgültig von allem Sperrmüll befreit ist, sind die Frauen an der Reihe. Alle tippeln artig durch eine Aufzugstür in den Raum, werden zur Begrüßung verprügelt, mit dem Kopf in eine übrig gebliebene Badewanne getaucht und dann aus dem Fenster geworfen.

Zholdak liebt die schier endlose Wiederholung solcher Sequenzen, die durch schrille, das Gehör angreifende Geräusch-Samples in ihrer Aggressivität noch gesteigert werden. Das Problem ist nur, dass bei diesen so sinnfreien wie schweißtreibenden Machoaktionen kein einziger Theaterfunke überspringt. Man ist eine Zeit lang belustigt ob der tobenden Energien, dann bald gelangweilt.

Im Gewaltpanorama Zholdaks gewinnen weder Medea (Signe Ibbeken), noch Jason (Marc Hosemann), noch Kreon, geschweige denn die vielen Knallchargen Kontur. Und so etwas Altmodisches wie etwa eine Milieuschilderung heutiger ukrainischer Verhältnisse findet natürlich auch nicht statt.

Nein, Volksbühnen-Intendant Frank Castorf hat mit Zholdaks Truppe quasi einen osteuropäischen Re-Import seiner eigenen ehemaligen Theaterradikalität ins Haus geholt. Doch die direkte Körperaktion, das gebrüllte Spiel, die zur Eskalation gesteigerten Alltagssituationen — die legendären Castorfschen Kartoffelsalat-Schlachten werden nun mit Kartoffelbrei wiederholt — laufen zielsicher ins Leere und stellen sich selbst bloß: als purer Trash, als Gewaltorgie, für die höchstens noch Beschüttungs-Künstler à la Hermann Nitsch oder Volksbühnen-Dramaturgen einen theoretischen Überbau zusammenzimmern können. Ein eindrucksvoll grauenhafter Abend. Thomas Heinold

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