Künstliche Intelligenz

Nürnberger Projekt: Ein Klavier, das von selbst spielt

29.10.2021, 12:01 Uhr
Dieser Flügel braucht keinen Menschen mehr, der an seinen Tasten sitzt. Künstliche Intelligenz verleiht ihm die Fähigkeit, die Musik des Saxofonisten zu hören und dazu zu improvisieren. An diesem Projekt wird im Nürnberger Leonardo-Zentrum gearbeitet

© Toni Hinterholzinger, NN Dieser Flügel braucht keinen Menschen mehr, der an seinen Tasten sitzt. Künstliche Intelligenz verleiht ihm die Fähigkeit, die Musik des Saxofonisten zu hören und dazu zu improvisieren. An diesem Projekt wird im Nürnberger Leonardo-Zentrum gearbeitet

Künstliche Intelligenz (KI) kommt nicht nur in der Wirtschaft und im Alltag zum Einsatz, sondern auch in der Kunst. Kürzlich hat sogar eine KI Beethovens nur fragmentarisch skizzierte 10. Symphonie vollendet. In Nürnberg wird derweil an etwas getüftelt, was all dem noch die Krone aufsetzen könnte. Dabei kommt eine Künstliche Intelligenz zum Einsatz, die in Interaktion mit einem menschlichen Musiker frei improvisiert.

Wohin soll das führen? Will sich der Mensch mit all seiner schöpferischen Intelligenz am Ende selbst ersetzbar machen? Wir wollten es genauer wissen und besuchten die Projektmitarbeiter Sebastian Trump und Martin Ullrich im Leonardo-Zentrum.

Innovatives Projekt

Das ist eine Kooperation der Technischen Hochschule, der Akademie der Bildenden Künste und der Hochschule für Musik in Nürnberg. Laut Selbstdarstellung ein "interdisziplinärer Raum und Projektplattform an der Schnittstelle von Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst". Die "Spirio Sessions" sind nur eines von vielen Projekten bei Leonardo, aber ein besonders spannendes: Ein selbst spielender, durch eine KI gesteuerter Flügel, Modell Spirio R, der Aufschluss auf folgende Frage geben soll: "Kann eine Künstliche Intelligenz auf gleichem Niveau mit einem Menschen in kreativen Schöpfungsprozessen zusammenarbeiten?"

Wie lernt Künstliche Intelligenz?

Aber wie bringt man einer KI überhaupt Musikalität bei? Sebastian Trump von der Hochschule für Musik, Musikwissenschaftler und Saxophonist, bemüht sich um eine auch für den Laien verständliche Antwort. "Die Maschine lernt durch Zuhören, so wie das Kind im Grunde auch Musik lernt. Wir haben zum Beispiel ganz viele Jazz-Standards eingegeben. Daraus versucht die KI, bestimmte Strukturen zu erkennen und neue Musik zu erzeugen."

Nicht-menschliche Musik

Schön und gut. Doch was ist der Sinn einer Maschine, die nur reproduziert oder variiert, was ihr der Mensch vorgibt? "Für uns besteht der Reiz des Projekts gerade in dem, was nicht reproduktiv ist", stellt Trump klar. "Uns liegt nichts daran, im Idealfall einen menschlichen Pianisten zu simulieren, der genauso spielt, wie ein menschlicher Pianist eben spielen würde. Sondern nach dem zu suchen, wo es anders ist. Dass auch das Nicht-Menschliche einen musikalischen Rahmen bekommt."

Mit Nicht-Menschlichem-Musizieren kennt sich Sebastian Trumps Kollege Martin Ullrich besonders gut aus. Er ist Professor für interdisziplinäre Musikforschung mit Schwerpunkt Human-Animal Studies. Auch er betont, dass es beim Spirio-Projekt mitnichten darum geht, menschliche Musiker durch Maschinen zu ersetzen.

Künstliche Intelligenz als Lehrer

Sondern darum, Musiker von der KI lernen zu lassen, da diese auf Ideen kommt, auf die ein Mensch nie kommen würde: "Das ist ein ganz wichtiges Ziel des Projekts. Deswegen haben wir auch nicht wie andere ähnlich gelagerte Projekte mit Stilkopien angefangen, sondern bei genuin freier Improvisation. In der Hoffnung, dass die KI ganz anders improvisiert als ein Mensch, der ja mit ganz bestimmten Prägungen, Erfahrungen und Sozialisationen in die Improvisation geht. Im Idealfall kommt dabei Musik heraus, die in einem rein menschlichen Interaktions-Szenario gar nicht entstehen würde."

Wenn man sich die aktuelle Musikszene anschaut, klingt das in der Tat verlockend. Gibt es vielleicht doch einen Ausweg aus dem Stillstand, der Musealisierung, der Nostalgie trunkenen Rückwärtsgewandtheit, welche weite Teile sämtlicher Musiksparten, vom Pop über den Jazz bis zur Klassik, zu lähmen scheint?

Andererseits: Von Zwölftonmusik über Free Jazz bis zum Progressive-Rock sind sämtliche Versuche, rhythmische und harmonische Grundregeln hinter sich zu lassen, früher oder später in einer Sackgasse versandet. Was kann eine Maschine diesen ehrenwerten Versuchen noch hinzufügen? Hören wir es uns an.

Wie von Geisterhand

Wir begeben uns ins Musikzimmer des Leonardo-Zentrums, wo zwischen Schlagzeug, Keyboards und Verstärkern der Spirio-Flügel steht. Rein optisch ein ganz normales Instrument, wie man es von unzähligen Konzertbühnen kennt. Doch sobald Sebastian Trump mit seinem Altsaxophon die ersten verhaltenen Töne in das neben dem Klavier aufgestellte Mikrofon bläst, bewegen sich die Tasten wie von Geisterhand. Dahinter steckt ein ganz früher Prototyp der KI. Die hört dem Saxophon über das Mikrofon zu, erkennt meistens die Töne, täuscht sich manchmal aber auch – was Improvisator Trump besonders interessant findet, entstehen dadurch doch ungewohnte neue harmonische Strukturen.

Für den Zuhörer klingt das Ergebnis ein wenig spooky: Auf Trumps kurze, meist nur aus zwei bis vier Tönen bestehende Melodiefragmente antwortet der Spirio-Flügel mit ebenso kurzen, abgehackten Phrasen, die teils die Töne des Saxophons variieren, teils mit scharfen Halbton-Dissonanzen für Reibung sorgen.

Ungewohnte Klänge

Rhythmisch gibt es keinerlei Struktur, tatsächlich scheint die KI mit der Unbedarftheit eines Aliens zu musizieren, der völlig frei von jeder Regel mit dem tonalen Material experimentiert. Und ja, das klingt mitunter ziemlich schräg in unseren von Bach, Beatles und Miles Davis sozialisierten Ohren. Im zweiten Anlauf mit einem weiteren Prototypen wirkt das Zusammenspiel von Mensch und Maschine schon flüssiger, inspirierter, beflügelter, die Tonfolgen sind länger und zusammenhängender.

In einem dritten Experiment musiziert Felix Gottwald, Student an der Hochschule für Musik, am E-Piano mit Spirio, welcher die Bassstimme und ein elektronisches Schlagzeug übernimmt. Der Sound erinnert nun ein wenig an den elektronischen Rockjazz der frühen Siebziger Jahre. Doch würde man diese Musik beim Joggen hören, würde man garantiert über die eigenen Füße stolpern.

Gemeinsames Musizieren von Mensch und Maschine

New directions in music? Wer weiß. Auch wenn die aktuellen Versuche des Leonardo-Teams zum Teil noch recht tastend und unausgegoren wirken, so ist doch zu erwarten, dass die musikalische Interaktion von Mensch und Maschine in absehbarer Zeit tatsächlich zu hörbaren, innovativen Ergebnissen führt.

Dass das musikalische Genie von morgen eine Maschine sein wird, ist trotzdem nicht zu befürchten. Doch vielleicht lassen sich musikalisch hochbegabte Menschen künftig auch von Maschinen in ihrem kreativen Schaffensprozess herausfordern und inspirieren.

Hier kann man der KI beim improvisieren zuhören und zusehen: www.leonardo-zentrum.de/projekte/spirio-sessions

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