Interview

"Schrei der Verzweiflung": Nürnberger Autorin schreibt Roman über Schizophrenie

4.10.2021, 12:23 Uhr
Marion Karausche, geboren in Deutschland, ist mit ihren drei Geschwistern in Madagaskar aufgewachsen.

© Tom Schneider Marion Karausche, geboren in Deutschland, ist mit ihren drei Geschwistern in Madagaskar aufgewachsen.

Marion Karausche, geboren in Deutschland, wuchs mit drei Geschwistern in Madagaskar auf. Sie hat an der Sorbonne in Paris und an der University Kent studiert und dann als Dolmetscherin (Französisch, Englisch, Deutsch) gearbeitet. Bis Anfang 2021 lebte sie mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Nahen Osten, wo sie als Übersetzerin und Sprachlehrerin tätig war. Nun hat die Autorin, die eigentlich anders heißt, Karausche ist ein Pseudonym, in Nürnberg ihr Zuhause und ihr Erstlingsroman "Der leere Platz" ist erschienen. Ein Debüt bei einem renommierten Verlag mit einem sehr emotionalen Thema - wir haben mit ihr gesprochen.

Frau Karausche, im Zentrum ihres Romans "Der leere Platz" steht die schwere psychische Krankheit eines jungen Mannes und die Frage, wie man damit umgehen kann. Er selber deutet manchmal an, dass er eher die "Normalen" als die "Verrückten" empfindet.

Marion Karausche: Die Grenzen sind verschwommen, sie sind unterschiedlich in verschiedenen Kulturen, es ist immer eine Frage der Perspektive, der Mehrheit und Minderheit.

Seine Mutter Marlen äußert an einigen Stellen Kritik an psychiatrischen Behandlungsmethoden und an rechtlichen Regelungen.

Karausche: Das war für mich ein wichtiger Grund, dieses Buches zu schreiben, um ein Thema in den Vordergrund zu rücken, das gerne unter den Teppich gekehrt wird. Ist das Recht, jemandem zuzuschauen wie er an seiner Psychose zugrunde geht, abgeleitet vom Recht auf körperliche Integrität, wirklich noch zu vertreten? Bei einer Schizophrenie muss man feststellen, dass der Betroffene unfähig ist, seine Krankheit noch selbst zu erkennen. Ein Schizophrener ist fest überzeugt, dass er gesund ist, dass er jedoch das Opfer einer Verschwörung ist.

Was heißt das konkret?

Karausche: Zum einen müssen die Rechte der Eltern gegenüber den Rechten eines Betreuers gestärkt werden. Es kann nämlich sein, dass der Patient aus der Klinik entlassen wird, ohne dass die Familie davon erfährt, dass er dann hilflos in die Freiheit stolpert, was nicht selten aufgrund der Aussichtslosigkeit des Obdachlosenlebens zum Selbstmord führt. Außerdem ist es dringend, dass sich einige Gesetze ändern: die Richter entscheiden über den Patienten, sie sind aber keine Ärzte. Ein Arzt muss mitentscheiden, ob der Patient überlebensfähig ist, wenn er wieder in die Freiheit entlassen wird. Wenn man von Dämonen im Kopf beherrscht wird, muss die grundgesetzlich garantierte persönliche Freiheit etwas anders definiert werden. Wer in seinem Kopf die Aufforderung hört "Spring von der Brücke!" muss leider in seiner Freiheit beschränkt werden. Aufgrund der hässlichen deutschen Vergangenheit ist dieses Thema aber sehr schwierig und belastet.

Welche Bedeutung hat für den verlorenen Sohn Kai im Roman die Religion, ein Glaube – oder nur eine Ersatzdroge?

Karausche: Wenn man in einer Psychose steckt, verliert man seinen normalen Anker, zum Beispiel die Familie. Die Flucht zur Religion, zu Schamanen ist die verzweifelte Suche nach einem Halt.

Marion Karausche: Der leere Platz - Kein & Aber, 271 Seiten, 22 Euro.

Marion Karausche: Der leere Platz - Kein & Aber, 271 Seiten, 22 Euro. © Verlag: Kein & Aber/Montage: Sabine Schmid

Die Parallelen zwischen der Mutter im Roman und der Autorin liegen auf der Hand. War das Schreiben des Romans eine Art Trauerarbeit und Selbstbefragung? Wieviel Mut gehört dazu, diese Geschichte ungeschminkt zu erzählen?

Karausche: Es ist nicht ausschlaggebend, wer hier wirklich betroffen ist. Sobald man sich mit diesem Thema befasst - und das kann auch sein, wenn bei Bekannten so ein Fall auftritt -, braucht man einen Weg, sich damit auseinanderzusetzen. Der Mut kommt dann von alleine, weil das Schreiben ein Schrei der Verzweiflung ist. Das Manuskript entstand in kurzen Episoden über ein Dreivierteljahr. Man muss jeden Tag an das Buch denken und dann am Computer Phasen des Schreibens einlegen. Der zweite Teil war die Arbeit mit dem Verlag, die ungefähr noch einmal so lange gedauert hat.

Das Ende des Romans ließe sich als optimistisch für den Sohn und tragisch für die Mutter deuten. Ist diese Beobachtung falsch?

Karausche: Die Mutter entdeckt in letzter Sekunde eine Botschaft ihres zweiten Kindes (Amy), für das sie dableiben muss. Wer kämpft, hat noch nicht verloren! Mir war sehr wichtig, dass das Buch - auch angesichts der großen Zahl von Betroffenen - mit einem Hoffnungsschimmer endet.

Welche Reaktionen bekommt man als Verfasserin bei einem so sensiblen Thema?

Karausche: Erstaunlich viele und sehr private Reaktionen; bei der ersten Lesung in Köln kamen zahlreiche Zuhörer nachher auf mich zu und erzählten gerührt, dass sie ähnliche Erfahrungen machen mussten.

Wie schafft man es, sein Debüt-Manuskript bei einem so renommierten Verlag wie Kein & Aber unterzubringen?

Karausche: Es ist ein Teil Glück, dass ein Manuskript wahrgenommen wird. Wichtig war auch das Thema, das die Verantwortlichen im Verlag interessiert hat.

Sie wohnen nun in Nürnberg. Ist das die provinzielle Alternative zu einem bisher sehr weltläufigen Leben?

Karausche: Es ist eine sehr wohltuende Abwechslung nach chaotischen Reisen und Aufenthalten in unruhigen Ländern. Ich fühle mich in Nürnberg sehr wohl, genieße die Natur, die Radwege und Wanderwege. Ich hatte immer das Klischee, dass die Deutschen kalt und steif sind. Das muss ich jetzt schon revidieren.

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