Systemkrise? Deshalb sollten wir trotzdem am Föderalismus festhalten

23.3.2021, 15:20 Uhr
16 Bundesländer, 16 Fahnen.

© imago images/Winfried Rothermel 16 Bundesländer, 16 Fahnen.

Wer in einem Gespräch im Freundes- oder Kollegenkreis die größtmögliche Zustimmung erreichen will, der sollte am besten zu einer Schimpftirade auf den deutschen Föderalismus ansetzen. Es gibt ja auch kaum etwas Verrückteres als das Nebeneinander von 17 eigenständigen Regierungen in einem einzigen Staat. Überschlägig gerechnet kümmern sich in der Bundesrepublik 2600 Abgeordnete, 170 Minister(innen) und eine ähnlich große Zahl von Staatssekretär(inn)en um unser Schicksal – alle mit eigener politischer Agenda, viele von ihnen mit komplett unterschiedlichen Vorstellungen über ein funktionierendes Staatswesen.

Man muss ja nur das aktuellste, dramatischste Beispiel heranziehen, die Corona-Pandemie. Entschied sich ein Land für Lockerungen, so war das nächste schon wieder drauf und dran, den Lockdown zu verschärfen. Waren hier die Baumärkte offen, wurden dort die Buchhandlungen bevorzugt. Besonders absurd: Im Frühjahr 2020 konnten sich die Länder nicht einmal darauf einigen, wie mit den Kinderspielplätzen umzugehen sei. Wenige Kilometer Distanz beim Wohnort entschieden darüber, ob die Kinder schaukeln und rutschen durften oder nicht. Zwischenzeitlich wurden lange Listen veröffentlicht, wo eigentlich was erlaubt ist in Deutschland. Darf ich in Hessen noch alleine auf einer Parkbank sitzen und Brotzeit machen? Ist die Einreise nach Mecklenburg-Vorpommern gestattet? Haben in Berlin Möbelhäuser geöffnet?

Die Entmachteten müssten zustimmen

Welche Konsequenzen ziehen wir aus alledem? Sollten wir, wenn die Pandemie eines Tages überstanden ist, ernsthaft über eine (Teil-)Entmachtung der Länder reden? Um dann im äußersten Falle zu einem Zentralstaat wie in Frankreich zu kommen, wo Paris alle entscheidenden Vorgaben macht? Umsetzbar wäre das zwar kaum, weil diejenigen, die entmachtet werden sollen, solchen Verfassungsänderungen zustimmen müssten. Das werden sie niemals tun. Aber Gedankenspiele sind ja gestattet.


Das bedeutet der harte Oster-Lockdown für Arbeitnehmer


Man kann sich aus gutem Grund über regionale Sonderregelungen und über Profilierungsversuche von einzelnen Ministerpräsident(inn)en ärgern. Aber stellen wir uns nur mal vor, wie es ganz zu Beginn der Pandemie abgelaufen wäre. Bayern war wegen der Nähe zu Österreich und Italien eines der am stärksten betroffenen Bundesländer. Hätte eine ausschließlich zuständige Berliner Regierung aus 600 Kilometern Entfernung wirklich so schnell und so entschlossen reagiert wie die in München? Zweifel sind angebracht – nicht, weil "die Berliner" blöder wären, sondern weil die räumliche Nähe zu einem Problem einen besonderen Handlungsdruck erzeugt. Das ist unter anderem bei den Sachsen und ihren Sonderregelungen für den Vogtlandkreis mit seinen extrem hohen Inzidenzwerten zu beobachten.

Wer den Ländern wesentliche Aufgaben wegnähme, etwa die Zuständigkeit für den Infektionsschutz, der würde auch den Wettbewerb stark einschränken. In einem gewissen Rahmen ist es aber durchaus sinnvoll, wenn Landesregierungen mit unterschiedlichen Konzepten arbeiten. Es kann zwar lästig sein, wenn unterschiedliche Öffnungsstrategien getestet werden. Aber daraus können die restlichen Länder lernen, deren pandemische Lage im Moment (noch) anders aussieht.

Die gesunde Konkurrenz der Länder ist einer der wichtigsten Vorteile des Föderalismus. Das hat gar nichts mit Neoliberalismus und "der Stärkere siegt" zu tun. Aber wenn ohnehin alle Regeln "von oben" vorgegeben würden und staatliche Gelder nach dem Gießkannenprinzip über die Länder verteilt würden, fiele der wichtigste Anreiz weg, gewisse Dinge besser zu machen als die Nachbarn. Im Bereich der Standort- und Wirtschaftsförderung wirkt sich das besonders deutlich aus.

Wir sind Deutsche und Mittelfranken

Nicht zu unterschätzen ist der Aspekt der kulturellen Identität. Klar: Wir sind alle in erster Linie Deutsche. Auf dieser Ebene werden die grundlegenden Entscheidungen in den Bereichen Außenpolitik, Finanzen und Soziales getroffen. Aber wir verstehen uns eben auch als Niedersachsen, Hessen oder Bayern und in der weiteren Untergliederung sogar noch als Mittelfranken, Oberfranken oder Oberpfälzer. Die Landtage mit ihren Kompetenzen können diesen Eigenheiten gerecht werden.

Ein weiteres, in dieser Aufzählung vorerst letztes Argument für den Föderalismus: Er verhindert Entwicklungen ins Extreme. Dadurch, dass bei vielen Gesetzen der Bundesrat eingeschaltet werden muss, der häufig andere Mehrheiten hat als der Bundestag, sind ständig Kompromisse nötig. Es reicht eben nicht eine einzige Wahl, um einen totalen politischen Kursschwenk zu erreichen, sondern große Veränderungen (wie etwa hin zu Schwarz-Grün) vollziehen sich über etliche Jahre hinweg.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Föderalismus, wie wir ihn jetzt erleben, ist nicht das Maß aller Dinge. Er hat Schwächen. Dass sich die Ministerpräsidentenkonferenz unter Teilnahme der Kanzlerin zum zentralen Steuerungselement entwickelt hat, war in der Verfassung nie so vorgesehen. Weil die Parlamente mit einer gewissen Verspätung nur noch das vollzogen, was die 17er-Runde bereits entschieden hatte, verschoben sich die Gewichte zwischen den Verfassungsorganen. Selbstbewusste Parlamentarier wie der verstorbene Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann haben sich zu Recht heftig dagegen gewehrt.

Einer der Hauptkampfplätze des Föderalismus ist, abgesehen von der Pandemie, die klassische Schulpolitik. Eltern können es nicht fassen, dass sich im Jahr 2021 ein innerdeutscher Schulwechsel so schwierig gestaltet wie einer ins Ausland. Schultypen, Lehrpläne und Prüfungen weichen stark voneinander ab und nicht einmal über eine gerechte Aufteilung der Ferientermine kann sich die Politik einigen. Der Wettbewerbsgedanke scheint hier kaum zu fruchten. Jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass die Schwächeren von den Stärkeren lernen würden und das Niveau des gesamten Schulwesens gehoben würde.

Auch stellt sich die Frage, ob wir wirklich 16 Bundesländer benötigen. Das Saarland (knapp eine Million Einwohner) und Bremen (547 000 Einwohner, etwa so viel wie Nürnberg) könnten ihre kommunale oder regionale Identität sicher auch wahren, wenn sie kein eigenes Land wären. Die Hauptstadt Berlin ist regelrecht eingebettet in das Bundesland Brandenburg und es gibt einen intensiven Austausch. Eine Vereinigung wäre höchst wünschenswert. Leider hat das die Bevölkerung bereits abgelehnt, und kein Politiker wagt sich mehr an das Thema heran. Acht, neun oder zehn Bundesländer wären eine vernünftigere Größenordnung.

Das vielleicht wichtigste Argument zu Gunsten des Föderalismus ist ein Blick auf stärker zentral regierte Staaten wie Frankreich und Spanien. Man könnte angesichts von Wirtschaft, Kultur und Pandemiebekämpfung in diesen Ländern nicht gerade behaupten, dass dort etwas entschieden besser funktionieren würde. Nur eines ist im Zentralismus vermutlich einfacher: den Schuldigen zu finden. Wenn es nur einen Gesundheitsminister statt 17 Menschen mit dieser Amtsbezeichnung gibt, dann ist der auch für alles haftbar zu machen. Wir erleben dagegen das ständige Verschieben der Verantwortung von Bund zu Ländern und umgekehrt. Das nervt gewaltig. Aber das ist möglicherweise der Preis, den wir für das Gleichgewicht der Kräfte bezahlen müssen.

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