Vermächtniswerk mit Abgründen und jubelnder Gloria

7.8.2011, 16:28 Uhr

 Nachdem Uwe Wolf vom Leipziger Bach-Archiv den Urtext der Neuen Bach-Ausgabe nach dem Stand neuer Forschungen revidierte, lässt sich die bisher aufgrund älterer Forschungen (Bach-Ausgabe l956) vertretene Meinung nicht länger aufrecht erhalten, Bachs opus summum sei nur zufällig im Laufe der l730er Jahre aus verschiedenen Kirchenmusikwerken zur Missa tota zusammengefügt worden. Richtig ist vielmehr, dass Bach gezielt bereits bestehende Teile zu einer vollständigen Messe vereinte.

Und noch ein weiterer Tatbestand lässt aufhorchen: da Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel nachträglich in seines Vaters Original Änderungen vornahm, wurden ausgewählte Stellen des Autographs mittels Röntgenfluoreszenzanalyse untersucht. So konnten die meisten der zweifelhaften Korrekturen dem Vater bzw. Sohn zugeschrieben werden. Was hat sich für die Ausführenden konkret geändert?

Hans-Christoph Rademann interpretierte in St. Gumbertus Bachs auftragsloses „Vermächtniswerk“ mit Solisten, Dresdner Kammerchor nebst historisch besetztem Barockorchester schlüssig und transparent. Es faszinierten vor allem die vehement einsetzende Chorfuge „Et resurrexit“ und das temporeiche „Osanna“. Das dreiteilige „Kyrie“ reflektierte depressive Abgründe, ehe sich die Szene im jubelnden Gloria aufhellte und den Charakter eines „dramma per musica“ annahm.

Dem Purismus eine Absage erteilt

Da regierte ein Kunstwille, der kompromisslos der Erhabenheit des Werkes diente und den Monumentalcharakter früherer Ansbacher Aufführungen vergessen ließ, ebenso jeglichen historisch puristischen Ansatz mied. Biegsam geriet die Tongebung. Sie wirkte rhythmisch durchpulst, auch tänzerisch inspiriert.

Der Dresdner Kammerchor agierte wendig in den fugierten Abschnitten. Die Solisten Dorothee Mields (Sopran), die bewegend ihr Agnus Dei gestaltende Altistin Wiebke Lehmkuhl sowie Daniel Johannsen (Tenor) und der Bass von Jochen Kupfer ließen kaum Wünsche offen.

Igor Levit (23), der in Nizhni Nowgorod geborene Ausnahmepianist, führte in der Orangerie im Rahmen des „Junge Meister“-Zyklus vor, über welch spieltechnische Bravour und Dispositionskraft er gebietet. Wie er den Geheimnissen in Bachs Partita Nr. 6 e-Moll BWV 830 nachspürte, wurde zum bannenden Hörerlebnis. Perfekt gelang ihm die technische Kontrolle, spürsinnig leuchtete er in die polyphonen Strukturen. Das nahm dem fugierten Mittelteil in der Toccata der kühnen Partita jegliche motorische Strenge.

In keiner Phase wirken die Spielzüge trocken, so dass die kapriziös-virtuose Allemanda und die mit Synkopen gespickte Corrente eine reizvolle Note erhielten. Dass Johannes Brahms von der Musik J. S. Bachs hingerissen war, gewann in der für die linke Hand auf dem Klavier transkribierten Chaconne d-Moll aus der Partita BWV 1004 an Beweiskraft. Und Igor Levit schreckt auch vor dem Schwersten nicht zurück. Er besitzt den flammend-heißen Zugriff für die Atemkurven des Klavier-Orchestrators Franz Liszt. So prägte sich in der h-Moll Sonate ein männlicher Liszt ein. Bei den kämpferischen Passagen im wild losbrechenden Allegro energico mobilisierte Levit seine physischen Potenziale – zwar ein wenig überrumpelnd in der Lautstärke, doch frei von jeglicher Blendwirkung.

Prickelndes Spiel des Klavierduos

Was Joseph Rheinberger am Bach’schen Original der „Goldberg-Variationen“ romantisierte, Max Reger in seiner Version noch psychologisierend vertiefte, machte das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen (Matinee Orangerie) in einer eigenen Bearbeitung für Klavierduo noch kontrastreicher, vibrierender, auch anmutiger. Mit vitalem prickelnden Spiel gewann das Werk an Spannung. Durch beredte Dramatik öffnete sich ein Kosmos von kompositorischer Vielfalt.

Verwandte Themen


Keine Kommentare