Eingriff in Grundrechte? Sorge über Polarisierungswelle bei "Anne Will"

Matthias Oberth

Ressortleiter Nordbayern.de

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17.05.2020, 23:50 Uhr
Olaf Sundermeyer (Investigativ-Reporter beim rbb und Buchautor), Sahra Wagenknecht (Die Linke), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Anne Will, Karl Lauterbach (SPD), Bernhard Pörksen (Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, v.l.) diskutierten bei Anne Will über die Corona-Demos.

© NDR/Wolfgang Borrs Olaf Sundermeyer (Investigativ-Reporter beim rbb und Buchautor), Sahra Wagenknecht (Die Linke), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Anne Will, Karl Lauterbach (SPD), Bernhard Pörksen (Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, v.l.) diskutierten bei Anne Will über die Corona-Demos.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Eingriffe in die Grundrechte war eigentlich das Thema bei Anne Will. Doch die Diskussion wandte sich sehr schnell dem Thema der Polarisierung der Gesellschaft und den wirtschaftlichen Folgen für viele Selbstständige und Kleinunternehmer zu. Momentan ist noch die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass die derzeitigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie gerechtfertigt sind. Gleichzeitig steigen die Proteste und bei Demonstrationen in Deutschland wird sowohl die Aufhebung aller Einschränkungen gefordert als auch schwere Eingriffe in die Grundrechte beklagt.

Der Umgang mit den Protesten war zwischen den Talkgästen umstritten. Der Journalist Olaf Sundermeyer, der viele der Corona-Proteste beobachtet, nimmt eine Zunahme der Dynamik beim Demonstrationsgeschehen wahr. Ihm bereitet Sorge, dass dort teilweise dieselben Akteure aktiv sind, die schon bei den Demonstrationen auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise aktiv waren. "Polit-Aktivisten aus den verschiedenen Lagern versuchen, eine Prostestkulisse aufzubauen, die sehr viel mehr vermittelt, als die Stimmung tatsächlich unter den Menschen ist", so Sundermeyer. Die "mediale Verstärkung" trage dazu noch weiter bei.

Dennoch müsse sehr genau unterschieden werden, zwischen den Protesten jener Menschen, die um "ihre Existenz fürchten und keine Lobby wie die Autoindustrie haben", machte der Journalist deutlich. Er lieferte damit die Steilvorlage für Sahra Wagenknecht von den Linken, nach deren Ansicht viele Menschen von "der Politik im Stich gelassen worden sind". So gebe es riesige Rettungspakete für die Industriebetriebe, obwohl ihnen nie gesagt worden sei, dass sie wegen der Cornakrise nicht produzieren dürften. "Erst sind ihnen die Lieferketten weggebrochen und jetzt fehlt die Nachfrage", lautet ihre Analyse der Lage. Sie zeigte kein Verständnis dafür, dass hier die Milliardenbeträge ausgegeben werden und die Kleinunternehmer, die Gastronomie oder die Reisebranche um ihre Existenz fürchten müssen.

Populisten wollen Kapital schlagen

Der Journalist Sundermeyer widersprach Wagenknecht, dass sich aus diesem Spektrum der Gesellschaft der Großteil der Proteste speisen würde. "Das sind nicht die Leute, die auf die Straße gehen", hat er beobachtet. Er sehe vielmehr, dass Populisten, insbesondere aus der AfD, versuchen, aus "diesem Unmut, diesem Protest und diesem Opferdasein" Kapital zu schlagen. Eine These, die der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen durchaus teilt. Er glaubt an eine dritte "Polarisierungswelle", die das Land innerhalb kurzer Zeit erlebt. Die erste Welle fand 2015 im Zuge der großen Flüchlingsströme statt, dann folgte die Klimadebatte und nun die kommt die "Coronapolarisierung", so Pörksen.

Er bezifferte das "Milieu der Aufbegehrer" mit rund 20 Prozent der Bevölkerung und rief zu einem "differenzierten Diskurs" auf. "Wir müssen Antisemiten, Antisemiten nennen und Verschwörungstheoretiker auch Verschwörungstheoretiker", so Pörksen. Gleichzeitig sei "nachfragende Kritik" angesichts massiver Existenzängste legitim und wichtig.

Ob dieser Diskurs mit Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern überhaupt möglich respektive sinnvoll sei, darüber gingen die Meinungen weit auseinander. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält eine Diskussion mit den Demonstranten vor Ort, angesichts der bestehenden Einschränkungen wie Distanzwahrung und Mundschutz, eher für kontraproduktiv als hilfreich. Sundermeyder und Pörksen fanden wiederum das Gesprächsangebot des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der am Rande einer Demonstration in Dresden ohne Mundschutz auf die Demonstrierenden zugegangen war, als den richtigen Weg.

Anne Wills Frage, ob sich die Corona-Pandemie ähnlich instrumentalisieren lasse wie die Flüchtlingskrise, verneinte Karl Lauterbach. Das liege schon allein an der Pandemie an sich. "Kommt die Pandemie zurück, dann wird jeder sagen, wie verrückt ist das denn, jetzt gegen etwas zu demonstrieren, was vor unseren Augen stattfindet", sagte der SPD-Politiker. Wenn sich die Verhältnisse andererseits weiter normalisieren, fallen die Gründe fürs Demonstrieren weg, so seine einfache Rechnung. Bei den Flüchtlingen sei die Situation eine andere gewesen: "Flüchtlinge sind nicht gegangen, die sind ja geblieben."

"Da stehen mir die Nackenhaare zu Berge"

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigt viel Verständnis für das Bedürfnis, seinen Prostest zum Ausdruck zu bringen. Wenn aber auf den Plakaten "Weg mit Diktatur" zu lesen ist oder "Widerstand" skandiert wird, dann "stehen mir die Nackenhaare zu Berge", so die FDP-Politikerin, da hier Grundrechte lediglich dazu benutzt werden, um andere Zielrichtungen in Position zu bringen.

Bernhard Pörksen unterstützte diese Sichtweise und nannte es verkehrt, die Anführer einzuladen und ihnen den roten Teppich auszurollen. "Die muss man entlarven und demaskieren", so seine Forderung. Anderseits gelte es mit denen zu reden, "die Angst haben, zweifeln oder einfach eine andere Meinung haben". Hier sieht der Wissenschaftler nicht zuletzte die Aufgabe der gesellschaftlichen Mitte, die in diesen Diskurs massiv einsteigen soll. "Sagen, was zu sagen ist, Kritik üben und sich nicht opportunistisch wegducken" lautet sein Appell an die breite Bevölkerung.

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