10 Jahre Fukushima: Katastrophe in Echtzeit

7.3.2021, 12:48 Uhr
10 Jahre Fukushima: Katastrophe in Echtzeit

© Foto: Aflo/dpa

Der 26. April 1986 war in Deutschland ein warmer Frühlingstag, viele Menschen saßen am späten Abend noch bei einem Glas Wein auf der Terrasse – ahnungslos, was 1500 Kilometer weiter östlich passierte. In Tschernobyl havarierte ein Atomreaktor, aber die Welt, von einem für die Menschen unüberwindlichen Eisernen Vorhang geteilt, wusste zunächst nichts davon.

Im schwedischen Forsmark maß man am nächsten Tag rund um das dortige Atomkraftwerk radioaktive Strahlung, das sorgte für große Verunsicherung. Ein Leck? Niemand wusste, dass es Strahlen aus dem Reaktor in der damaligen Sowjetrepublik Ukraine waren, dass eine radioaktive Wolke über Europa trieb. Es dauerte zwei Tage, bis die Sowjetregierung den Unfall einräumte, die bis heute größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Atomkraft.


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Fast genau 25 Jahre später sah die Welt in Echtzeit zu, wie sich das Trauma zu wiederholen schien – in einem modernen Industriestaat, dessen Atomkraftwerke als sicher galten. Aber als vor zehn Jahren, am 11. März 2011 um 14.46 Uhr, der Meeresgrund vor Japans Nordost-Küste auf 400 Kilometern gewaltig bebt, gewaltiger denn je, braucht es keine drei Minuten mehr bis zum Inferno.

Atomarer Notstand

Der Tsunami, der auf die Küste zurollt, reißt über 20.000 Menschen in den Tod – und trifft das 1971 in Betrieb genommene Kernkraftwerk Fukushima Daiichi mit voller Wucht. Mit dem Beben war der Strom ausgefallen, die Wassermassen überschwemmen vier von sechs Reaktorblöcken – die Notstromaggregate versagen ihren Dienst, knapp sechs Stunden später ruft Japans Regierung den atomaren Notstand aus. Ministerpräsident Naoto Kan spricht von der "größten Katastrophe für Japan seit dem Zweiten Weltkrieg", der mit den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki endete.

10 Jahre Fukushima: Katastrophe in Echtzeit

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Eine über Tage andauernde Unfallserie ist nicht mehr zu stoppen. In drei Blöcken kommt es wegen des Kühlungsausfalls zu Kernschmelzen, in den Reaktorgebäuden 1, 3 und 4 zu Wasserstoff-Explosionen. Radioaktives Material tritt aus – zum zweiten Mal nach Tschernobyl erlebt die Welt einen sogenannten katastrophalen Unfall der Kategorie 7, der höchsten auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (INES) – das erste große Unglück, eine partielle Kernschmelze im Reaktorblock 2 des Kraftwerks bei Harrisburg im US-Bundesstaat Pennsylvania, hatte am 28. März 1979 die INES-Skala 5 erreicht.


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In Fukushima befürchten Experten eine nukleare Explosion, Hunderttausende Menschen müssen fliehen, Ministerpräsident Kan erwägt sogar, das 240 Kilometer entfernte Tokio zu evakuieren.

Wochenlang sieht die Welt Bilder vom Kampf gegen Rauch und Flammen, geführt mit Wasserwerfern und Hubschraubern. Die Betreibergesellschaft Tepco lässt die Menschen im Unklaren, Beschwichtigungsversuchen stehen immer neue Pannen entgegen. Die Chronik kann hier nur sehr verkürzt ausfallen. Erst am 9. Oktober liegt die Temperatur aller Reaktoren konstant unter 100 Grad, Lecks in den Tanks mit kontaminiertem Wasser bereiten aber noch jahrelang Probleme, die Tepco oft nur einräumt, wenn sie ohnehin nicht mehr zu leugnen sind.

Heute, zehn Jahre später, ist Fukushima Daiichi eine Ruine, deren Rückbau und Entsorgung noch 30 bis 40 Jahre andauern wird, bis 2032 sollen alle 4741 Brennstäbe entfernt sein. In über 1000 Tanks lagern noch 1,2 Millionen Kubikmeter Lösch- und Kühlwasser, noch immer kommen täglich bis zu 170 Kubikmeter hinzu.

In Zahlen kaum zu fassen

Die Bilanz des Schreckens ist in Zahlen kaum zu fassen, auch wenn die Ausmaße der Katastrophe diejenigen von Tschernobyl nicht erreichten. Vor der "Apokalypse", die der deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger prognostiziert hatte, blieb die Welt verschont. Eine Studie der Colorado State University aus dem Jahr 2013 errechnete, dass Fukushima rund 520 Petabecquerel radioaktiven Materials in die Atmosphäre gestoßen habe – Tschernobyl, wo eine Sicherheitsüberprüfung komplett außer Kontrolle geraten war, etwa 5300 Petabecquerel.

Andere Studien gingen für Fukushima von bis zu doppelt so hohen Werten aus – aber anders als die Strahlung von Tschernobyl, die sich über ganz Europa ausbreitete und über Regenfälle auch in Bayern große Landstriche kontaminierte, gelangte ein Großteil der Strahlung von Fukushima in den Pazifischen Ozean.

Von 134 Arbeitern, die in Tschernobyl einer extremen Strahlung ausgesetzt waren, starben 28 in den ersten vier Monaten an inneren Blutungen, Geschwüren und Organversagen; Spätfolgen betreffend differieren die Zahlen gewaltig. Es gibt Rechenmodelle, die von rund 10.000 Toten ausgehen, andere von bis zu 1,7 Millionen. In Fukushima erkrankte niemand an einer akuten Strahlenkrankheit, aber psychische Leiden und Suizide infolge des Heimatverlustes könnten zu 1000 und mehr Todesfällen geführt haben, wie diverse japanische Medien in den Folgejahren unter Berufung auf entsprechende Untersuchungen berichteten. Zuverlässige Zahlen kann es kaum geben; Krebserkrankungen umzurechnen ist immer ein Rätselraten und wird dem Schicksal der betroffenen Menschen nicht gerecht.

Schwer erschüttert war weltweit das Vertrauen in die Atomenergie. Ein Jahr nach der Katastrophe musste Tepco einräumen, dass die Sicherheit der Anlage internationalen Standards nicht mehr entsprochen habe und dass Notfall-Übungen nebenbei und routiniert durchgeführt worden seien. Ein Vierteljahrhundert nach Tschernobyl blieb der Eindruck, die Kernenergie sei immer und überall ein unkalkulierbares Risiko.

Unmittelbare Folgen hatte Fukushima für die deutsche Politik. Am 27. März 2011, dem Tag, als Japans Regierung die Kernschmelze in Block 2 einräumen musste, wurde mit Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg erstmals ein Politiker der Grünen zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gewählt.

Merkels Umdenken

Laut Demoskopen war es auch und besonders der Ausdruck eines Protestes gegen die Atomkraft, zu der die von Angela Merkel geführte Bundesregierung aus Union und FDP noch am 28. Oktober 2010 ein neues Bekenntnis abgelegt hatte: Merkels Koalition hatte den noch von der rot-grünen Bundesregierung des Kanzlers Gerhard Schröder beschlossenen Ausstieg kassiert.

Acht Monate später, nach der Katastrophe von Fukushima, erklärte Merkel das im Bundestag zu einem Irrtum. "Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert", sagte sie. Es gelte, den Ausstieg zu forcieren, es sei "eine Herkules-Aufgabe", bis Ende 2022 sollten alle Anlagen abgeschaltet sein. Von 600 Abgeordneten stimmten 513 für den Ausstieg.

Zehn Jahre Fukushima, 35 Jahre Tschernobyl. Manchmal sind es kleine Meldungen, die auf die Dimensionen schließen lassen: So warnt das Bundesamt für Strahlenschutz noch immer vor dem Verzehr einiger Wildpilzarten aus kleineren Gebieten im Bayerischen Wald, im Donaumoos, im Berchtesgadener Land und in der Region Mittenwald – die Strahlenbelastung in Folge von Tschernobyl könne immer noch zu hoch sein.

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