Exklusives Interview

Baerbock in Nürnberg: "Wegducken ist brandgefährlich"

15.9.2021, 05:55 Uhr
"Der große Unterschied wird sein, ob Grüne in der Regierung eine führende Rolle einnehmen können. Beim Klimaschutz können wir uns keine halben Sachen mehr leisten", sagt Annalena Baerbock im Interview.

© Stefan Hippel, NNZ "Der große Unterschied wird sein, ob Grüne in der Regierung eine führende Rolle einnehmen können. Beim Klimaschutz können wir uns keine halben Sachen mehr leisten", sagt Annalena Baerbock im Interview.

Frau Baerbock, wie zufrieden waren Sie mit dem Triell Nr.2? Die Werte der Grünen sind im Sinkflug und nähern sich denen der FDP…

Baerbock: Es hat mir riesengroßen Spaß gemacht, endlich mal über Inhalte zu diskutieren. Die Unterschiede sind ja deutlich geworden: Zur Wahl steht, ob wir eine echte Erneuerung angehen oder ob es ein "weiter so" gibt. Viele Menschen sind noch unentschieden. Das zeigt sich auch in den Umfragen. Manche sagen: Dieses Land muss sich verändern, aber wir brauchen auch eine Sicherheit, dass es dabei sozial gerecht zugeht. Diesen Menschen will ich deutlich machen: Ja, das verspreche ich – dass der Klimaschutz sozial gerecht gemacht wird und für die Pendlerinnen und Pendler im ländlichen Raum genauso funktioniert wie für den Mitarbeitenden beim Automobilkonzern.

Viele Beobachter schreiben Sie als ernsthafte Dritte im Bunde ab, es gehe nur noch darum, ob Scholz das Rennen macht oder Laschet. Sie dürften das anders sehen…

Baerbock: Es zeigt sich in den letzten Wochen, wo die Umfragen rauf und runter gehen, dass alles drin ist. Es macht einen großen Unterschied, ob die nächste Bundesregierung grün angeführt wird oder von einer der beiden Groko-Parteien, die immer nur auf Sicht gefahren sind, insbesondere beim Klimaschutz. Auch in der Pandemie hat die Bundesregierung meist nur reagiert, anstatt vorzubeugen, etwa an den Schulen, die in der Breite noch immer nicht pandemiesicher genug sind. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass Kinder und Jugendliche geschützt werden, Schulen und Kitas offen bleiben. Und da Kinder nicht geimpft werden können, gilt es, möglichst in allen anderen Bereichen den Schutz hochzufahren, auch in der Arbeitswelt. Aber weder Herr Scholz noch Herr Laschet trauen sich, etwa eine Testpflicht am Arbeitsplatz einzuführen, aus Angst vor Widerständen.

Annalena Baerbock im Interview mit den beiden Chefredakteuren Alexander Jungkunz und Stephan Sohr auf Ursulas Gemüsehof in Neuhof.

Annalena Baerbock im Interview mit den beiden Chefredakteuren Alexander Jungkunz und Stephan Sohr auf Ursulas Gemüsehof in Neuhof. © Stefan Hippel, NNZ

Inzwischen wäre eine Neuauflage der Groko wieder möglich, Markus Söder schließt sie nicht aus. Landen Sie vielleicht wieder in der Opposition?

Baerbock: Ich setze alles daran, den Richtungswechsel, den das Land braucht, umzusetzen. Darum geht es doch bei der Wahl: Schaffen wir einen echten Aufbruch? Oder machen wir weiter mit dem Durchwurschteln der Groko? Die Große Koalition hat uns nicht nur beim Klima in eine Sackgasse geführt.

Denken wir daran, dass wir bei der Digitalisierung auf den hinteren Tabellenplätzen unter den Industriestaaten sind. Weder Schulen sind ausreichend digitalisiert noch Arztpraxen noch die Justiz. Auch in der Außenpolitik gab es ein Wegducken, und Afghanistan zeigt, dass dieses Wegducken brandgefährlich wird. Menschen, die den Einsatz unterstützt haben, hängen in Afghanistan fest, weil die Große Koalition nicht den Mut hatte, sie schnell genug in Sicherheit zu bringen.

Weder Sie noch Olaf Scholz schließen eine Koalition mit der Linken ganz aus. Warum nicht?

Baerbock: Die letzten Jahre haben gezeigt, wie wichtig es ist, dass Demokratinnen und Demokraten miteinander im Gespräch bleiben. Gerade, weil es einige Akteure in Europa, auch in unserem Land gibt, die die Demokratie von innen aushöhlen wollen. Deswegen halte ich nichts davon, Gespräche unter demokratischen Parteien auszuschließen. Aber klar ist auch: Eine Bundesregierung, die ich anführen möchte, die muss endlich wieder eine aktive pro-europäische Außenpolitik betreiben, weil ansonsten antidemokratische Kräfte wie Russland und China diese Lücke füllen. Und die Linke hat in den letzten Wochen erneut deutlich gemacht, dass sie dazu nicht bereit ist und sich damit selbst ins Abseits gestellt.

Ist die Linke eine demokratische Partei?

Baerbock: Ja.

Wäre Rot-Grün-Rot nicht viel einfacher zu machen als eine Ampel? Mindestlohn, Steuererhöhungen für Besserverdienende etc. - all das geht doch viel leichter mit der Linken. Die FDP macht da nicht mit.

Baerbock: Ich zerbreche mir jetzt nicht den Kopf über theoretische Koalitionsbildungen. Der große Unterschied wird sein, ob Grüne in der Regierung eine führende Rolle einnehmen können. Beim Klimaschutz können wir uns keine halben Sachen mehr leisten. Sowohl Herr Laschet als auch Herr Scholz haben deutlich gemacht, dass sie 17 Jahre lang weiter in der Kohle drin bleiben wollen. Das konterkariert all unsere Klimaschutzziele und damit das Versprechen, die globale Erhitzung zu bremsen.

Sie wollen eine Vermögenssteuer wieder einführen. Meinen Sie, dass das einer Wirtschaft hilft, die sich erst langsam sich wieder von der Corona-Rezession erholt?

Baerbock: Steuern sind kein Selbstzweck. Wir sind aber gerade in einer Situation, wo wir erlebt haben, dass unser Gesundheitssystem stark am Bröckeln ist. Hätten Pflegekräfte, hätten Ärzte und Ärztinnen in der Pandemie nicht rund um die Uhr alles dafür getan, das Gesundheitssystem am Laufen zu halten, dann hätten wir ein riesengroßes Problem gehabt. Das Gleiche gilt für unsere Schulen. Im Jahr 2021 funktioniert in vielen Schulen das Internet nicht, an manchen fehlt sogar das warme Wasser. Das zu ändern kostet Geld. Und im Unterschied zur Union verspreche ich nicht nur, sondern kläre die Finanzierung: Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, dass die Bundesländer die Vermögensteuer wieder einführen, um mit den Einnahmen die Schulen zu den schönsten Orten in unserem Land zu machen.

Vor der Pandemie stiegen die Steuereinnahmen Jahr für Jahr in Deutschland von einem Rekord zum anderen. Würde das nicht dafür sprechen, die Unternehmen und die Arbeitnehmer in diesem Jahr zu entlasten?

Baerbock: Aber der Investitionsbedarf im Land ist riesig, Deutschland liegt im EU-weiten Vergleich weit hinten. Daran sieht man, wie teuer uns 16 Jahre Unionsregierung gekommen sind. In einer wirtschaftlich hervorragenden Zeit wurde das Geld nicht genutzt für unsere Infrastruktur. Stattdessen wurde das Geld in teuren Projekten versenkt, etwa in der europarechtswidrigen Maut. Das kann sich Deutschland nicht weiter leisten. Und weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht, möchte ich Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen, die tagtäglich hart arbeiten, unter anderem durch eine Anhebung des Grundfreibetrages entlasten. Alleinerziehende, die wenig verdienen, hätten mit unseren steuer- und familienpolitischen Maßnahmen pro Jahr etwa 2000 Euro mehr zur Verfügung. Die Union dagegen will Spitzenverdienende vom Soli befreien und damit die Reichsten im Land um 10 Milliarden entlasten. Ich halte das für falsch. Steuersenkungen haben sich übrigens noch nie selbst finanziert. Das ist ein Märchen, an das heute kein Ökonom mehr glaubt.

Sie haben im Triell gesagt, Verbote seien auch Anreize für Innovationen. Das müssen Sie erklären…

Baerbock: Der Fortschritt unseres starken Industrielandes basiert darauf, dass eine neue Technologie eine alte ablöst. Nehmen wir den Katalysator: Auch da gab es einen riesengroßen Aufschrei. Und wozu hat es geführt? Dass die Technologieführerschaft der deutschen Autos damit gesichert war. Auf heute übertragen heißt das: Wenn wir nicht die Autos der Zukunft bauen, mit Reichweiten von über 700 Kilometern, dann werden das China oder die USA tun. Ich möchte aber, dass das Auto der Zukunft weiter in Deutschland gebaut wird. Dafür braucht es Regeln, aber natürlich auch Freiräume für Entwickler – etwa in den Reallaboren in Baden-Württemberg – und auch steuerliche Anreize für Unternehmen.

Was würden Sie denn ganz konkret verbieten, um Innovation zu beschleunigen?

Baerbock: Wenn in den nächsten Jahren keine neuen Ölheizungen mehr in die Heizungskeller eingebaut werden dürfen, dann bringt das einen Anschub für Wärmepumpen. Die stehen technologisch bereit. Das Gleiche passiert, wenn ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos neu zugelassen werden: Es gibt einen Schub für E-Autos, auch gebrauchte E-Autos, die sich dann auch jede und jeder mithilfe einer maßgeschneiderten Förderung leisten kann. Schon bei Wind und Photovoltaik haben wir gesehen, dass es die Massenproduktion ist, die die Dinge günstig macht.

"Bereit, weil ihr es seid" heißt Ihr Wahlkampf-Motto. Aber sind die Deutschen wirklich bereit für größere Veränderungen?

Baerbock: Überall im Land spürt man großen Frust darüber, dass unser reiches und starkes Land in den letzten Jahren so unter seinen Möglichkeiten regiert worden ist. Dass wir etwa bei der Digitalisierung so katastrophal dastehen. Überall sagen Menschen: Es muss sich doch etwas verändern – aber das Wichtige ist, dass wir dabei alle mitnehmen. Deswegen ist Klimaschutz immer auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit. Und das bedeutet eben, dass wir die Veränderungen mit einer starken Sozialpolitik begleiten müssen und den Mindestlohn auf 12 Euro anheben.

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