"Cancel Culture"-Debatte: Lieber ausgrenzen statt diskutieren?

7.3.2021, 17:48 Uhr
Erwägte seinen Austritt aus der SPD: der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

© Christoph Soeder, dpa Erwägte seinen Austritt aus der SPD: der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Man muss ein bisschen ausholen bei dieser Geschichte. Erinnern Sie sich noch an die Aktion #Act-Out? Unter diesem Titel outeten sich Anfang Februar im Magazin der Süddeutschen Zeitung 185 Schauspielerinnen und Schauspieler als schwul, lesbisch, transgender, bisexuell oder nicht binär.

Eine Aktion, die auf viel positive Resonanz stieß. Die Teilnehmenden berichteten teils beklemmend, wie sie allein wegen ihrer sexuellen Identität ausgegrenzt würden - auch beruflich, weil sie für etliche Rollen nicht oder deutlich seltener ausgewählt würden als Heterosexuelle. Zudem werde ihnen häufig geraten, sich lieber nicht zu outen; das steigere ihre Chancen im Beruf.


Kommentar: 185 Schauspieler outen sich - Ja, genau das braucht es!


Einen kurzen, kritisch bis ironischen Kommentar dazu gab es. Die Feuilletonchefin der FAZ, Sandra Kegel, wollte das für die Betroffenen zweifelsohne brisante Thema tiefer hängen, verwies auf gesellschaftliche Fortschritte und schrieb, die Türen seien doch für die allermeisten schon offen, sie quietschten höchstens etwas. Ulrich Matthes etwa - einer der an der Aktion Beteiligten - habe doch alle Rollen bekommen.

Heftiger Entrüstungssturm

#ActOut: So sah die Titelseite des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" Anfang Februar aus.

#ActOut: So sah die Titelseite des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" Anfang Februar aus. © Screenshot Twitter

Wohlgemerkt: Das war ein kommentierender Beitrag, den man als herablassend oder weit weg von den Problemen der Betroffenen einstufen konnte. Daraus wurde aber ziemlich rasch ein sehr heftiger Entrüstungssturm gegen die Autorin, die nicht nur als homophob, sondern auch als AfD-nah, rassistisch und auch antisemitisch kritisiert wurde.

Was das alles mit der SPD zu tun hat? Deren Grundwertekommission, geleitet von Gesine Schwan, hatte Sandra Kegel zu einer Diskussionsrunde ihrer Reihe "Kultur schafft Demokratie" eingeladen. Der Lesben- und Schwulenverband Deutschland forderte, die Journalistin wieder auszuladen. Doch der digitale Streit fand statt - und lief gewaltig aus dem Ruder, mit heftigen Attacken, sehr emotional und laut.

"Stalinistischer Schauprozess"

Der Publizist Christian Nürnberger, selbst ein an seiner Partei leidender Sozialdemokrat, schreibt: "Die Eingeladenen dachten nicht daran, mit Frau Kegel zu diskutieren, sondern bildeten ein Tribunal und verkündeten ihr Urteil." Mit einem "stalinistischen Schauprozess" verglich denn auch der Verleger Helge Malchow die Atmosphäre der Auseinandersetzung, Sandra Kegel wehrte sich gegen diese Art von "Cancel Culture". Der Lesben- und Schwulenverband verlangte danach eine Entschuldigung der SPD, weil einem sehr aggressiv auftretenden Vertreter das Mikro abgeschaltet wurde.


"Cancel Culture"-Debatte: Thierse erwägt Austritt aus der SPD


Angesichts der Heftigkeit auch dieser Debatte meldete sich dann Wolfgang Thierse zu Wort. Der Ostdeutsche stieß 1990 zu den Sozialdemokraten und wurde einer ihrer Vize-Chefs. Von 1998 bis 2005 war der heute 77-Jährige Bundestagspräsident. Ein Mann mit klarer Haltung, der sich auch im Zentralkomitee der Katholiken engagierte.

Ohne Austausch von Argumenten

Er schrieb, ebenfalls in der FAZ, eigentlich Selbstverständliches - das aber für manche offensichtlich nicht mehr selbstverständlich ist. Er beklagte, dass die Auseinandersetzungen über ethnische und sexuelle Identität, über Herkunft, Hautfarbe oder Religion immer aggressiver und dafür ohne echten Austausch von Argumenten geführt würden.

Thierse warnte vor einer drohenden Spaltung der Gesellschaft. "Das Ziel muss vielmehr sein, die akzeptierte Diversität friedlich und produktiv leben zu können." Und er schrieb: "Die Heftigkeit mancher Attacken aufs Hergebrachte, ebenso wie die Heftigkeit der Verteidigung des Hergebrachten, die Radikalität identitärer Forderungen drängen zu der Frage: Wie viel Identitätspolitik stärkt die Pluralität einer Gesellschaft, ab wann schlägt sie in Spaltung um?"

Wenn Empörung die Abwägung von Gründen ersetzt

Gesine Schwan, die zweimal von der SPD als Kandidatin fürs Bundespräsidialamt ins Rennen geschickt wurde, sprang Thierse in einem ähnlich argumentierenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung bei. Ein Kernsatz: "Wenn Empörung die Abwägung von Gründen ersetzt - dann zerstört das unsere Chance auf ein freies Miteinander."


Cancel Culture: Wer bestimmt, was gesagt werden darf?


Damit gerieten auch die beiden, vor allem aber Thierse, in die Kritik. Auch in der eigenen Partei. Co-Chefin Saskia Esken und Vorstandsmitglied Kevin Kühnert luden Vertreter der Lesbisch-Schwulen-Bisexuell-Transgender-Gemeinschaft zum Austausch. Laut der Online-Plattform queer.de ließen die beiden mitteilen: "Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden", zeichneten "insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD, das Eure Community, Dritte, aber eben auch uns verstört". Mehr noch: Esken und Kühnert ließen wissen, sie "schämten" sich wegen dieses Bildes.

Thierse wertete dies so, wie man es werten musste: als Attacke auf sich. Daher fragte er bei Esken an, ob sein "Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich" empfunden werde. Ihm jedenfalls kämen "Zweifel, wenn sich zwei Mitglieder der Parteiführung von mir distanzieren".

Shitstorm und viel Zustimmung

Thierse erhielt nach dieser Distanzierung der SPD-Spitze von einem langjährigen Aushängeschild der Partei jede Menge krasse Reaktionen. In einer Mail hieß es: "Tja, selbst schuld. Wer schwulenfeindliche, reaktionäre, hinterwäldlerische, faschistoide Dreckscheiße von sich gibt, muss mit so einer Reaktion rechnen. Treten Sie zu den Religionsfaschisten von der Union über und werden Sie dort glücklich. Ein verärgerter schwuler Genosse."

Olaf Scholz will vermitteln

Am Wochenende berichtete der ehemalige Bundestagspräsident von "überwältigender Zustimmung", die er insgesamt erfahre. Nun will Kanzlerkandidat Olaf Scholz in dem Streit vermitteln. Streit? Auch Kühnert und Esken haben ja gar nicht mit, sondern nur über Thierse gesprochen. Daran krankt der Patient Debattenkultur in Deutschland. Und an Absolutheitsansprüchen etlicher Beteiligter, die einen echten Austausch zu oft gar nicht wollen. Der aber ist elementar, davon lebt (Sozial-)Demokratie.

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