Urteil zur Bundes-Notbremse

Corona-Diktatur? Von wegen, sagt Karlsruhe

30.11.2021, 10:54 Uhr
Strenge Kontrollen wie hier in Köln: Während der Notbremse galten Ausgangsbeschränkungen.

© Federico Gambarini, dpa Strenge Kontrollen wie hier in Köln: Während der Notbremse galten Ausgangsbeschränkungen.

Es war eine Notlage ohne Muster: Der Bund zog im April jene Notbremse, die massiv in die Freiheitsrechte eingriff - Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen sowie Schulschließungen gab es in diesem Umfang und national so bisher nie. Waren diese Einschränkungen der individuellen Freiheiten aber auch verfassungsgemäß?

Ja, sagt nun Karlsruhe. Die Verfassungsrichter weisen sehr wohl auf die handfesten Eingriffe bis hinein ins Privatleben hin. Aber: Sie betonen den noch wichtigeren Gesundheitsschutz - und der stehe über der individuellen Freiheit, die zudem nur zeitlich und regional begrenzt worden sei.

Lebensschutz ist höchstrangig

Der Gesetzgeber trage Verantwortung dafür, "Konflikte zwischen hoch- und höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden", so steht es im Urteil. Und die Richter machen klar, dass der "Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems" in Zeiten der Pandemie höchstrangig waren - also über der individuellen Freiheit stehen.

Ein einziger Satz des Grundgesetzes enthält die ganze Sprengkraft des Problems. In Artikel 2, Absatz 2 heißt es: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden."

Schutzpflicht des Staates

Aus dem "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" könne, so Karlsruhe, eine "Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst". Mit den Kontaktbeschränkungen wollte der Gesetzgeber "Leben und Gesundheit schützen" - also seiner Pflicht nachkommen. Die zeitliche und regionale Befristung der Eingriffe in die laut Verfassung unverletzliche Freiheit der Person seien daher auch verhältnismäßig.

Bei den Schulschließungen verweisen die Richter ebenfalls auf die zeitliche Beschränkung. Sie erkennen aber erstmals in dieser Deutlichkeit auch das "Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung" an. Die Schulschließungen hätten auf schwerwiegende Weise in dieses Recht eingegriffen.

Hausaufgabe an die Schulpolitiker

Das ist eine Mahnung an die aktuelle und künftige Politik - und gar nicht mal so indirekt eine Hausaufgabe an die Bundesländer: Lasst die Schulen und ihre oft nach wie vor erbarmenswürdige Ausstattung endlich in der Gegenwart und dann auch in der Zukunft ankommen! Also: digitale Ausrüstung für alle, um für Notfälle und Homeschooling besser gerüstet zu sein. Da gibt es, wie auch bei den Luftfiltern, immer noch Nachholbedarf.

Die Kinder waren mit die Hauptleidtragenden der Lockdowns, das zeigen alarmierende Zahlen und Berichte aus Praxen und Kliniken. Solche Schäden dürfen nicht noch einmal in Kauf genommen werden.

Keine freie Hand für die Politik

Und da sind wir bei den dringlichen Aufgaben der Politik: Wenn sich an diesem Dienstag nachmittag die alte und die neue Regierung mit den Ministerpräsidenten der Länder trifft, dann haben sie keineswegs freie Hand bei all dem, was sie womöglich planen. "Verhältnismäßig" müssen die Schritte sein. Das könnte für vorübergehende Kontaktbeschränkungen angesichts der aktuellen Zahlen zutreffen - aber sicher nur befristet und mit Blick auf die Entwicklung der Pandemie.

Offen ist die nächste entscheidende Frage, die Karlsruhe mit Sicherheit beschäftigen wird: Ist eine allgemeine Impfpflicht verfassungsgemäß? Die meisten Experten sagen: Ja - ebenfalls mit Verweis auf den überragenden Vorrang von Gesundheits- und Lebensschutz. Die Politik muss dazu den Anstoß geben, bald. Und: Sie kann ebenfalls nach Einschätzung vieler Verfassungsrechtler Ungeimpften weniger Freiheiten einräumen als Geimpften - Gleiches ist gleich, Ungleiches aber ungleich zu behandeln.

Mehr Mut und weniger Rücksicht auf Unbeirrbare, bitte!

Da ist, so lässt sich der Urteilsspruch deuten, sehr viel möglich, um die aktuelle Notlage in den Kliniken zu beheben. Die Politik muss den Mut dazu aufbringen - der so groß gar nicht ist: Eine sehr große Mehrheit der Bürger beschränkt seit einigen Tagen, spätestens seit Auftauchen der Omikron-Variante, schon freiwillig Kontakte, hält sich an die nach wie vor wichtigen AHA-Regeln und plädiert für eine Impfpflicht. Verwundert registrieren die Geimpften das Zaudern der Politik gegenüber rigideren Schritten, die - wie das Beispiel anderer Länder zeigt - ja durchaus wirken.

Böswillige Fehlsicht der trotzig Ungeimpften

Wer mit Blick auf Krankentransporte in andere Bundesländer, verschobene Operationen und viele vermeidbare Tragödien immer noch von Corona-Diktatur schwadroniert, den wird auch das austarierte Karlsruher Urteil nicht von dieser böswilligen Fehlsicht abbringen können. Bisher nahm eine abwägende, zu vorsichtige Politik allerdings zu viel Rücksicht auf jene Gruppe trotzig Ungeimpfter, die selbst zu wenig Rücksicht nehmen - und damit ihre persönliche Freiheit über den Schutz von Leben und Gesundheit möglichst vieler stellen.

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