Kommentar: Radikale Islamisten bedrohen auch unsere Freiheit

30.10.2020, 16:25 Uhr
Blumen, Botschaften und Kerzen liegen vor der Kirche Notre-Dame in der südfranzösischen Küstenstadt Nizza, wo es einen tödlichen Messerangriff mit drei Toten und mehreren Verletzten gegeben hatte.

© Daniel Cole, dpa Blumen, Botschaften und Kerzen liegen vor der Kirche Notre-Dame in der südfranzösischen Küstenstadt Nizza, wo es einen tödlichen Messerangriff mit drei Toten und mehreren Verletzten gegeben hatte.

Sind es Taten von Einzeltätern, von psychisch Gestörten? Es sind jedenfalls unfassbar brutale Attacken, die Frankreich erlebt: Mit einem Metzgersbeil wurden Ende September zwei junge Männer attackiert, die vor der früheren Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo Pause gemacht hatten. Dann die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty. Und nun die tödlichen Messerattacken in Nizza.


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Alle Taten gehören durchaus zusammen. Und wirken wie die Wiederkehr der Albträume, die Frankreich 2015 erlebt hat mit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den Attacken auf den Musikclub Bataclan sowie das "Stade de Paris".

Frankreich im Visier

Frankreich ist aus mehreren Gründen derart heftig im Visier von Islamisten: Es gilt ihnen historisch betrachtet seit je als Hort des Laizismus und der Aufklärung, aber auch als Zentrum der katholischen Kirche. Die Probleme in den Vororten vor allem um Paris, wo Integration krachend gescheitert ist, treiben Verlierer leicht in die Hände radikaler Kreise - die in den vergangenen Jahren Zuwachs bekamen durch Migranten, die Europa im Zuge der Flüchtlingswelle erreichten.


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Und: Die "Grande Nation", aktuell gewaltig erschüttert durch Corona und den Terror, pocht stolz auf die Errungenschaften der Revolution - auf jene Freiheiten, die elementar sind auch für unsere Demokratie: die Freiheit der Meinung, der Religion, der sexuellen Selbstbestimmung etc. - alles Freiheiten, die radikale Islamisten hassen und ablehnen. Sie setzen einen Steinzeit-Koran um und bekämpfen all jene, die auf ihre Freiheit pochen. Siehe die Attacken auf Charlie Hebdo.

Nun muss man die derben Scherze dieses Blattes nicht mögen. Aber wer nun in der Veröffentlichung der Erdogan-Karikaturen eine unnötige Eskalation sieht, der verwechselt Ursache und Wirkung und weicht dem Druck der Islamisten: Der türkische Machthaber geriet deswegen ins Visier der Satiriker, weil er maßlos und despotisch auf die deutlichen Ansagen von Frankreichs Präsident Macron nach der Enthauptung des Lehrers reagiert hatte.

Macron und Erdogan

Macron rief zum entschiedeneren Kampf gegen radikale Islamisten auf und verteidigte vehement die Meinungsfreiheit - wie dies auch der Lehrer Paty getan hatte, der im Unterricht über Mohammed-Karikaturen diskutierte und dafür mit dem Leben bezahlen musste. Erdogan warf Macron darauf eine "Lynchkampagne" gegen Muslime in Europa vor und rief zum Boykott französischer Waren auf.


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Es war also Erdogan, der Öl ins Feuer goss. Seine Ausfälle in Richtung Paris stachelten offensichtlich Islamisten in aller Welt an. Er hatte Macron ganz bewusst missverstanden: Frankreichs Präsident warb geradezu um moderate Muslime, die er gern zu französischen Patrioten machen möchte. Seine Kampfansage galt allein der radikalen Minderheit.

Der Islam bräuchte - passend zum bevorstehenden Reformationstag - so etwas wie eine Reformation. Er müsste ankommen in der Moderne, in einer pluralistischen Welt. Müsste die Trennung von Staat und Religion anerkennen, die Frankreich besonders strikt praktiziert. Müsste überall weltliches Recht über die Scharia stellen.

Bedrohung radikaler Glaubensbrüder

All dies tut er nur zum Teil - auch in Deutschland, wo die große Mehrzahl von Muslimen einigermaßen, gut oder bestens integriert lebt; manche haben wenig Berührungspunkte zu ihrem Glauben. Und es gibt eine intellektuell starke Gruppe von Muslimen, die den Islam - den sie als ihre Religion lieben und pflegen - auf die Höhe der Zeit bringen wollen. Ahmad Mansour gehört dazu, der Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, die Berliner Imamin Seyran Ates und andere. Doch sie alle leben unter permanenter Bedrohung durch radikale Glaubensbrüder, stehen meist unter Polizeischutz.

Ein unerträglicher Zustand. Zu Recht klagt etwa Ahmad Mansour darüber, dass in den Islam-Konferenzen und bei Integrationsgipfeln konservative Islam-Verbände das Sagen haben. Kritische Stimmen wie er sind da gar nicht dabei. Weil sie unbequeme Wahrheiten aussprechen und zwischen allen Stühlen sitzen.

Sie weisen darauf hin, dass Integration auch bei uns oft nur auf dem Papier steht. Dass es Parallelwelten gibt und Gettos, in denen nur türkisch oder arabisch gesprochen wird und patriarchalische Strukturen herrschen, teils in Clans. Dass es Mobbing auch gegen Deutsche in Schulen gibt und Lehrer oft schweigen, aus Angst, diffamiert oder attackiert zu werden.


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Unhaltbare Zustände. Sie können nur mit mutigeren Wortmeldungen bekämpft werden, die nicht nur von Stimmen wie Mansour kommen müssten, sondern auch von deutschen Politikern, ja von allen Demokraten. Es braucht massive Anstrengungen in den Schulen, um jungen Menschen dort genau die Werte vorzuleben, die unsere Gesellschaft ausmachen: Freiheit, Toleranz, Nächstenliebe, Solidarität. Diesen friedlichen Kampf entschlossen voranzutreiben ist das beste Mittel gegen Rassismus und seine Steigerungsform, den Terror.

Zum Weiterlesen: So kommentiert die NZ das Attentat von Nizza

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