Kommentar: Scholz überzeugt

Kurswechsel in der Ukraine: Deutschland ist endlich aufgewacht

Harald Baumer

Berlin-Korrespondent der NN

E-Mail zur Autorenseite

27.2.2022, 14:08 Uhr
Kanzler und Außenministerin bei der Sondersitzung des Bundestages.

© bildgehege via www.imago-images.de, imago images/Bildgehege Kanzler und Außenministerin bei der Sondersitzung des Bundestages.

Man konnte der deutschen Politik in den vergangenen Tagen regelrecht beim Aufwachen zuschauen. Beim Aufwachen aus einem jahrzehntelangen Traum. Zu diesem Traum gehörte es, dass die Europäische Union niemals mehr ernsthaft militärisch bedroht sein würde und dass Konflikte fast ausnahmslos mit den Mitteln der Diplomatie zu lösen sind. Und schließlich: dass es die Welt uns Deutschen aufgrund unserer unseligen Vergangenheit gestattet wird, weltpolitisch immer ein wenig am Spielfeldrand zu stehen und zuzuschauen.

All das ist mit der einsamen Entscheidung eines Mannes, auf dem europäischen Kontinent einen Angriffskrieg zu führen, zu Ende gegangen. Wie das oft so ist beim Aufwachen, hatte unsere Politik nicht sofort einen klaren Blick. Die Verantwortlichen glaubten, an irgendeinem Punkt werde Wladimir Putin doch bestimmt noch stoppen.

Wie die Sondersitzung des Bundestages zeigte, haben inzwischen nahezu alle Verantwortungsträger in Regierung und Opposition verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Olaf Scholz hielt seine bisher überzeugendste Rede. Die Veränderungen, die nun binnen kurzer Zeit stattfinden sollen, sind radikal. Die meisten Menschen dürften es noch nicht verinnerlicht haben, wie radikal sie wirklich sind.

Die Bundeswehr wird ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro erhalten und die Verteidigungsausgaben werden künftig endlich den Zwei-Prozent-Anteil am Gesamthaushalt ausmachen. Das hatten unsere Bündnispartner immer wieder gefordert, nun tun wir es. Die beschlossenen Sanktionen werden unserer eigenen Wirtschaft erheblich schaden, während wir doch gleichzeitig mehr Geld bräuchten - zum Beispiel für die Streitkräfte. Und schließlich ist unsere Energieversorgung massiv gefährdet.

Alternativloses Vorgehen

Das alles war alternativlos, um eine Formulierung der früheren Kanzlerin Angela Merkel aufzugreifen. Was hätte man denn sonst tun sollen? Mit dem Kriegsverbrecher Putin reden? Darauf hoffen, dass er seine Armeen vielleicht irgendwann von selbst stoppt? Das haben wir uns leider viel zu lange eingeredet und sind damit gescheitert.

Ein einziges großes Manko hatte die Sondersitzung des Bundestages: Die Bürgerinnen und Bürger wurden von der Politik viel zu wenig darauf vorbereitet, wie hart die Zeiten für sie werden - vor allem finanziell. Die Energiepreise werden dramatisch steigen, der Staat wird das nicht alles auffangen können. Unserer Wirtschaft gehen Märkte verloren, was letztlich Arbeitsplätze kosten kann.

Es wird vermutlich noch Jahre dauern, ehe sich die Welt wieder normalisiert. Wenn überhaupt. Das müssen wir alle erst einmal durchhalten - die deutsche Bevölkerung, die Unternehmen, die Politik. Das ist weitaus härter, als jetzt nach dem Schock des Angriffskrieges rasch nacheinander drastische Entscheidungen zu treffen.

Verwandte Themen


36 Kommentare