Interview mit Herfried Münkler

"Noch zu früh, zu entscheiden, ob Angela Merkel eine große Kanzlerin war"

2.12.2021, 06:00 Uhr
Am Donnerstag Abend gibt es den "Großen Zapfenstreich" für Angela Merkel. Ob sie auch als große Kanzlerin in die Geschichte eingeht?

© Michael Hanschke, dpa Am Donnerstag Abend gibt es den "Großen Zapfenstreich" für Angela Merkel. Ob sie auch als große Kanzlerin in die Geschichte eingeht?

Herr Münkler, wer sind denn für Sie große Bundeskanzler, wenn Sie zurückblicken auf die Geschichte der Bundesrepublik?

Herfried Münkler: Groß ist ja eigentlich ein Titel, der Herrschern früherer Jahrhunderte gerne verliehen worden ist – also Friedrich der Große, Karl der Große… Leute, die etwas vollbracht haben, durch das sich der erwartete Gang der Geschichte verändert hat. Das wird man in der Geschichte der Bundesrepublik so eigentlich nicht feststellen können - vielleicht mit Ausnahme von Helmut Kohl – aber das hat er ja eigentlich nicht selber gemacht, sondern die Bevölkerung der DDR. Insofern, würde ich meinen, neigen Demokratien dazu, das Epitheton "der Große" in ein Adjektiv zu verwandeln, also allenfalls von großen Politikern zu sprechen. Das sind dann diejenigen, die relativ lange regiert haben oder denen man Bedeutendes zuschreibt. Sicher Adenauer. Aber ich würde auch meinen, Brandt, wegen der Ostpolitik, Schmidt, weil er ein spezifisches Charisma aufgebaut hat, Kohl wiederum wegen der Wiedervereinigung und seiner langen, langen Amtszeit. Bei Merkel sind wir noch zu nah dran, um das wirklich beurteilen zu können.

Also braucht es noch ein bisschen Abstand, um zu beurteilen, ob Merkel eine große Kanzlerin war oder nicht….

Ja. Sich jetzt festzulegen, wäre zu früh.

Sieht in Angela Merkel eine Kanzlerin, die vielleicht groß war, weil sie so unspektakulär agierte: Herfried Münkler.

Sieht in Angela Merkel eine Kanzlerin, die vielleicht groß war, weil sie so unspektakulär agierte: Herfried Münkler. © imago images/Jürgen Heinrich

Was bleibt denn von dieser Ära Merkel übrig? Wenn man Bilanz zieht, sieht man viele Krisen, die sie gemanagt hat. War sie mehr eine Art Getriebene als eine Antreibende?

Sicherlich. Sie hatte ja, als sie Kanzlerin geworden ist, ein ziemlich neoliberales Wirtschaftsprogramm im Hintergrund, von dem aber tendenziell nichts umgesetzt wurde. Das, was in Erinnerung bleiben wird, ist die Abfolge, die schnelle Abfolge von sehr tiefgreifenden Krisen.

"Da brauchen wir noch ein bisschen Abstand"

Und wie wir das jetzt nun beurteilen, als bloßes Management von Krisen, also eher relativierend – oder verbunden mit der Vorstellung: Ach, hätten wir doch noch diese geschickte Krisen-Kanzlerin, die Katastrophales in Beherrschbares verwandeln konnte – davon hängt ihr Bild in der Geschichte ab. Und dazu brauchen wir noch ein bisschen Abstand.

Was auffällt: Viele sagen, dass wir Merkel bald vermissen werden. Aber blickt man auf eigene Impulse, eigene Reformen, Initiativen, die mit ihr verbunden waren, dann sehe ich wenig. Im Gegensatz etwa zu Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 eine Grundlage für Merkels Erfolg lieferte.

Das sehe ich genauso. Also erstens, Merkel hat sehr davon profitiert, dass der Sozialdemokrat Schröder zuvor quasi die Arbeit gemacht hat, für die er und seine Partei dann abgestraft worden sind und Angela Merkel die Ernte einfahren konnte. Das verbindet sich dann aber mit einer bemerkenswerten Leistung Merkels, die ich darin sehe, dass in ihrer Ära Deutschland in der EU nicht mehr als ein Akteur unter anderen Großen, wie Frankreich, Italien, Großbritannien, tendenziell auf einer Ebene angesehen wurde, sondern plötzlich als einer, der sehr viel mehr Einwohner hatte sowie ein sehr viel höheres Bruttoinlandsprodukt.

"Eine große Leistung, die aber nicht spektakulär daherkommt"

Dass das nicht zu einer strategischen Koalition gegen Deutschland geführt hat, wie das in der Vergangenheit zumeist war – das ist eine große Leistung, die aber nicht spektakulär daherkommt. Und möglicherweise ist es gerade das Große daran, dass es unspektakulär geblieben ist.

Auch da war sie eher moderierend tätig und um Ausgleich bemüht – ohne eigene Impulse zu setzen…

Exakt. Vielleicht kamen auch die Herausforderungen Merkels Mentalität und ihren spezifischen Fähigkeiten entgegen. Oder sie hat diese Fähigkeiten notgedrungenermaßen entwickelt. Das wissen vielleicht die Biografen, die näher an ihr dran gewesen sind als ich. Aber im Rückblick kann man schon sagen: Das hat halt auch zueinander gepasst. Und es ist nicht selbstverständlich, dass die spezifischen Fähigkeiten eines Politikers und die Herausforderungen einer Zeit zusammenpassen.

Ist vielleicht auch die Zeit vorbei, in der Politik klar gestalten oder "durchregieren" kann, wie es immer wieder gefordert wird? Ist die Politik zu komplex geworden?

So sehen das jedenfalls die meisten Soziologen und Politikwissenschaftler. Die Gestaltungsmacht eines Einzelnen ist doch sehr begrenzt. Andererseits gibt's natürlich eine notorische Erwartung, zumal in Krisensituationen, dass Politiker im buchstäblichen Sinn führen.

"Mehr Führung, mehr Initiative, mehr Entschlossenheit"

Und diese Erwartung gehört nun einmal gerade in Demokratien zum Politikbetrieb dazu. Das ist etwas, was jetzt eigentlich, nachdem klar ist, dass die Ära Merkel zu Ende ist, als Manko auffällt und was sehr nachhaltig von der neuen Regierung eingefordert wird. Mehr Führung, mehr Initiative, mehr Entschlossenheit.

Was Merkel immer wieder vorgehalten worden ist: dass sie ihre Politik schlecht bis gar nicht erklärt. Manchmal ist es ihr gelungen – siehe "Wir schaffen das" oder, bei Corona, "Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst." Ist dieses Erklären etwas, wo sich Politiker grundsätzlich schwertun?

Ja, das ist ein Dilemma: Wenn Politiker zu viel erklären, dann legen sie sich auch in einer Weise fest, so dass sie Flexibilität und letzten Endes Handlungsfähigkeit verlieren. Und wenn sie zu wenig oder zu dürftig erklären, ist die Bevölkerung irritiert oder renitent. Angela Merkel löste das im Sinne von Zurückhaltung, mit einer gewissen Sprödigkeit der Sprache. Im Gegensatz dazu tendierten ihr Vorgänger Gerhard Schröder und auch dessen Vize Joschka Fischer mehr in Richtung klare Ansagen - was ihnen auch nicht immer alles leicht gemacht hat, im Gegenteil. Beim Erklären des Balkan-Einsatzes oder bei Hartz IV, also beim Umbau des Sozialsystems, hat das nicht wirklich geklappt.

Nun war ja Merkel lange Jahre nicht nur Kanzlerin, sondern auch CDU-Vorsitzende. Wenn man nun auf den Zustand der Partei blickt – hat Merkel aus der CDU eine leere Hülle gemacht ohne Inhalt?

Sie hat sich als CDU-Vorsitzende gar nicht besonders gezeigt und profiliert, sondern das Amt als Parteichefin sozusagen nebenbei gemacht. Sie hat es eigentlich nur besetzt, um mögliche Konkurrenten auf Abstand zu halten. Ich würde nicht sagen, sie hat die weggebissen, wie das gerne gesagt wird.

"Die haben einfach nicht mit so langem Atem ausgehalten"

Die haben einfach – und da ist Zeit eine strategische Ressource - nicht mit so langem Atem ausgehalten wie Merkel. Sondern sie haben sich vorher zum Bundespräsidenten wählen lassen wie Christian Wulff, was nicht besonders erfolgreich war. Oder sie sind, wie Roland Koch, zu Bilfinger & Berger gegangen, was auch nicht sehr erfolgreich war. Sie haben sich gewissermaßen selber aus dem Spiel genommen.

Ist es sinnvoll, das Amt des Kanzlers und des Parteichefs in einer Hand zu behalten?

Das wird immer wieder gesagt. Ich bezweifle, ob das auf Dauer eine kluge Lösung ist, denn Kanzler werden auf unabsehbare Zeit die "Vorsitzenden von Koalitionsregierungen" sein – inzwischen sogar in Dreier-Konstellationen. Das heißt: Sie können im Kanzleramt gar keine eigene Profilbildung für die Partei betreiben, sondern können den Parteivorsitz eigentlich nur als Machtabsicherung ihres Kanzlerstatus benutzen. Es wäre auch für Merkel wohl besser gewesen, wenn sie auf dem Posten des Parteichefs jemanden gehabt hätte, der die CDU parteipolitisch profiliert und etwas im Auge zu behalten hätte, was während dieser langen Kanzlerschaft kaum jemand im Auge hatte – nämlich das Ende dieser Kanzlerschaft und wie es danach weitergehen kann.

Merkel war 16 Jahre im Amt – vier Legislaturperioden. Viele fordern eine Begrenzung auf zwei Amtszeiten. Wäre das sinnvoll?

Eigentlich nicht. Das kann man bei einer Präsidialverfassung machen, wie in den USA oder Frankreich – wenn ein Mann oder eine Frau mit sehr weitreichenden Machtbefugnissen an der Spitze steht. Aber in einer parlamentarischen Demokratie, wo der Kanzler nicht vom Volk bestimmt wird, sondern aus dem Parlament herausgewählt wird, scheint mir das keine nötige und auch nicht unbedingt eine sinnvolle Reform der Begrenzung von Macht zu sein. Das Amt ist hinreichend begrenzt in seinen Kompetezen – das macht eine Zeitbegrenzung eigentlich überflüssig.

Bald steht die Wahl des neuen Kanzlers an. Olaf Scholz hat im Wahlkampf mit der Raute posiert. Glauben Sie, er wird ähnlich agieren und regieren?

Ich glaube, es bleibt ihm gar nichts anderes übrig. Denn er muss ja diese drei sehr unterschiedlichen Parteien der Ampel zusammenhalten. Das heißt, er wird gut beraten sein, nicht in den Gestus des Machers, des starken Durchsetzers zu verfallen, der ihm ja ohnehin nicht liegt. Er ist wohl für die jetzige Konstellation mental der richtige - Gerhard Schröder würde da vom Typ her von Anfang an für erhebliche Reibungen sorgen.

Man muss sehen, wie Scholz das schafft – und ob die Minister der in der Koalition repräsentierten Parteien in der Lage sind, neben dem Kanzler Initiativen zu erbringen, wie sie jetzt von der Bevölkerung erwartet werden. Dass sie das Neue, das Andere verkörpern.

Ein bisschen Kontinuität, aber mit neuen Akzenten

Das ist ja auch Ausdruck dieses Wahlergebnisses: auf der einen Seite ein Bedürfnis nach Kontinuität und nicht zu tiefen Veränderungen – aber das Ganze dann doch bitte ein wenig anders und mit neuen Akzenten. Da wird ein Kanzler Scholz sehr viel Energie aufbringen müssen, diese unterschiedlichen Interessenslagen so zu bündeln, dass daraus nicht permanente Zerreißproben für sein Kabinett werden.

Angela Merkel sorgte für Aufsehen, weil sie für die Zeit danach ein großes Büro mit neun Mitarbeitern bekommen soll. Was macht sie mit so viel Personal? Hat sie noch einmal politische Ambitionen?

Schwer zu sagen. Sie ist jedenfalls noch nicht so alt, dass man erwarten kann, sie schreibe nur noch Memoiren. Es kann durchaus sein, dass sie auf internationaler Bühne noch ein Amt übernimmt und jetzt eine Phase braucht, um sich darauf vorzubereiten. Als jemand, der aus der Universität kommt, wo es in der Regel eine Sekretärin gibt und zwei Mitarbeiter, finde ich das allerdings schon sehr viel, was da nun aufgeboten wird.

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