NSU und Fall Lübcke: Welche Rolle spielte ein Geldtransporter?

13.1.2020, 06:00 Uhr
Stephan E., (rechts), der Verdächtige im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird nach einem Haftprüfungstermin beim Bundesgerichtshof zurück ins Gefängnis gebracht.

©  Uli Deck (dpa) Stephan E., (rechts), der Verdächtige im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, wird nach einem Haftprüfungstermin beim Bundesgerichtshof zurück ins Gefängnis gebracht.

Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019 gibt immer noch Rätsel auf. Hatte der mutmaßliche Täter Stephan E. Helfer? Gibt es womöglich Hintermänner in der rechten Szene? Woher stammte die Tatwaffe? Die jetzt bekanntgewordenen Hinweise auf eine mögliche Verbindung zur NSU-Mordserie in den Jahren 2000 bis 2007 heizen die Spekulationen weiter an. Doch aus den Akten des Polizeipräsidiums Mittelfranken vom Juni 2006 ergeben sich auch neue Ermittlungsansätze, die die Behörden nach Angaben des RedaktionsNetzwerkes Deutschland (RND) derzeit prüfen.

Im Zentrum stehen ein Ex-Verfassungsschützer und ein Geldtransporter. Dem Wagen könnte eine entscheidende Rolle zugekommen sein.

Im April 2006 wird Halit Yozgat, gerade 21 Jahre alt, in seinem Kasseler Internetcafé mit zwei Kopfschüssen ermordet. Während der Bluttat sitzen mehrere Kunden an den Computern in dem verwinkelten Raum. Einer von ihnen ist Andreas Temme, Beamter beim hessischen Verfassungsschutz – zuständig für den Bereich Rechtsextremismus und V-Mann-Führer. Er betreut also mehrere Informanten aus rechtsextremen Kreisen. Von dem Mord will Temme, damals Ende 30, allerdings nichts mitbekommen haben, obwohl er nur wenige Meter entfernt saß.

Rechte Propaganda in der Wohnung

Im Zuge der Ermittlungen fällt der Verdacht auf Andreas Temme, er wird als Beschuldigter vernommen, seine Wohnung und sein Arbeitsplatz beim Verfassungsschutz werden durchsucht. Die Kripo-Beamten finden neben Drogen auch illegale Munition und rechtsextreme Propaganda in einer "großen Anzahl", wie es in einem Aktenvermerk heißt, der dem gemeinsamen Rechercheteam von Nürnberger Nachrichten und Bayerischem Rundfunk vorliegt. Die Beamten der Kasseler Kriminalpolizei überprüfen im Jahr 2006 nun auch den Aufenthalt von Temme während der Zeit der vorherigen acht anderen NSU-Morde in Deutschland.

Für die erste Bluttat, die dem NSU zugerechnet wird, dem Mord an Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000 in Nürnberg, kann Temme ein Alibi seines Freundes Jürgen S. vorweisen, eines Mitarbeiters einer Kasseler Geldtransporter-Firma. Mit Jürgen S. will Temme laut eigenen Aussagen gemeinsam im Kino gewesen sein, heißt es in einem weiteren Vermerk.

Nürnberger Kripo-Leute vernehmen Verdächtigen

Pikant: Sechs Jahre später, der Mord an Halit Yozgat in Kassel war gerade geschehen, rückt Jürgen S. abermals ins Visier der Ermittler. Doch es sind nun ausgerechnet Nürnberger Kripo-Leute, die S. vernehmen, berichtet das RND. Die fränkischen Fahnder waren auf den Sicherheitsmann aufmerksam geworden, weil das Diensthandy von S., das offenbar fest mit seinem Geldtransporter verbunden gewesen war, in unmittelbarer Nähe zu zwei weiteren NSU-Tatorten in lokalen Funkzellen geortet worden war.

Und zwar am 9. Juni 2005 in Nürnberg, als der Imbissbetreiber Ismail Yaşar in der Scharrerstraße erschossen wurde, und neun Tage später, am 15. Juni 2005 in München, als Theodoros Boulgarides in der Trappentreustraße ermordet wurde.


NSU ist noch immer Bezugspunkt für Extremisten


In seiner Aussage soll der Sicherheitsmitarbeiter angegeben haben, er kenne Verfassungsschützer Temme seit 1990. Zusammen seien sie in Rocker-Kreisen verkehrt und hätten Schießübungen in Kasseler Schützenvereinen absolviert. Man habe mit der Dienstwaffe von Jürgen S. geübt, einem Revolver der Marke "Rossi", Modell 27, Kaliber 38 Spezial. Mit einer Waffe dieses Modelltyps wurde dreizehn Jahre später, im Juni 2019, der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke getötet. Ob auch Temme mit der "Rossi" trainierte, bleibt laut RND-Bericht im Vermerk unklar.

Kontakte zu den Hells Angels

Aus weiteren Unterlagen der Ermittler, die dem NN-BR-Rechercheteam vorliegen, geht hervor, dass sich Verfassungsschützer Temme beim Vorsitzenden eines Kasseler Schützenvereins zeitweilig nach Informationen zu ausländischen Mitbürgern erkundigt hat. Zudem fand die Polizei bei Temme Kleidungsstücke mit Emblemen der Rockergruppe Hells Angels. In einem anderen Verfahren wurde Temme aufgrund seiner Verbindungen zu den Hells Angels gar verdächtigt, interne Unterlagen des hessischen Landeskriminalamts zu Rockerstrukturen an die Rocker weitergegeben zu haben. Der Fall wurde nie aufgeklärt.

Dennoch rückt Andreas Temme, der in seiner Jugend den Spitznamen "Klein Adolf" gehabt haben soll, derzeit erneut ins Licht der Behörden. Denn nicht nur die Tatsache, dass der Verfassungsschützer nach dem Mord im Internetcafé 2006 seinen Arbeitsplatz im hessischen Landesamt für Verfassungsschutz verlassen musste und ausgerechnet ins Regierungspräsidium von Walter Lübcke wechselte, macht stutzig. Spätestens seit Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) einräumte, dass Temme mit dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. vor dem Jahr 2006 "dienstlich befasst" gewesen sei, werden Vermerke und Spuren aus dem NSU-Komplex neu abgeglichen.

Nach Angaben des RedaktionsNetzwerkes Deutschland halten es die Beamten sogar für möglich, dass der Kasseler Geldtransporter genutzt wurde, um Täter und Tatwaffen unbemerkt an Polizeikontrollen vorbeizuschleusen.

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