NSU-Morde

Opferanwältin fordert: "Wenn Sie aufklären wollen, müssen Sie die Akten freigeben!"

15.10.2021, 06:00 Uhr
Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zündeten nach dem Banküberfall in Eisenach im November 2011 ihr gemietetes Wohnmobil an und erschossen sich dann selbst. 

© Carolin Lemuth, dpa Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zündeten nach dem Banküberfall in Eisenach im November 2011 ihr gemietetes Wohnmobil an und erschossen sich dann selbst. 

Am Morgen des 4. November 2011 machten sich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt auf zu ihrer letzten Straftat. Sie überfielen eine Sparkassenfiliale in Eisenach und erbeuteten dabei fast 72.000 Euro. Mit dem Geld wollten die Rechtsextremisten ihr Leben mit ihrer Komplizin Beate Zschäpe im getarnten und mit Überwachungskameras gut gesicherten Domizil in Zwickau finanzieren. 14 Mal schon hatten die Männer solche Beutezüge in Deutschland begangen.

Doch diesmal lief die Sache schief. Ein Rentner, der gesehen hatte, wie die beiden Uwes Fahrräder und Tüten in einem gemieteten Wohnmobil verstauten, alarmierte die Polizei. Als die Beamten sich dem Fahrzeug näherten, fielen Schüsse. Wie man später rekonstruierte, feuerten die Täter erst auf die Polizisten, dann steckten sie den Campingwagen in Brand und erschossen sich selbst.

In dem verkohlten Fahrzeug entdeckte man nicht nur die Leichen, sondern auch die Dienstwaffe der im Jahr 2007 in Heilbronn getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter. Mord gelöst? Gerade als die Ermittler anfingen, die Puzzlesteine zusammenzusetzen, begann sich das Ausmaß der ganzen Tragöde an einem anderen Ort zu entfalten.

Thomas Haldenwang ist Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Der Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung in Deutschland, sagt er.

Thomas Haldenwang ist Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Der Rechtsextremismus sei die größte Bedrohung in Deutschland, sagt er. © Kay Nietfeld, dpa

Beate Zschäpe, die vom missglückten Überfall ihrer Freunde aus dem Radio erfahren hatte, zündete wenig später die Wohnung in Zwickau an und verschickte Videos in vorbereiteten Umschlägen an Redaktionen und Organisationen bundesweit. Dann flüchtete sie quer durch die Republik, ehe sie sich stellte. Auch im Pressehaus der Nürnberger Nachrichten ging eine solche DVD mit dem Video ein. Jedoch: sie wurde persönlich in einen Nachtbriefkasten eingeworfen. Von wem, ist bis heute unbekannt.

Die Scheibe zeigt furchtbare Szenen: "Paulchen Panther", die aus dem Fernsehen bekannte Zeichentrickfilm-Figur, führt den entsetzten Zuschauer von einem Mord zum anderen. Zehn Menschen wurden in den Jahren 2000 bis 2007 getötet. Böhnhardt und Mundlos hatten ihre sterbenden Opfer noch am Tatort fotografiert. Der NSU, der "Nationalsozialistische Untergrund", wie sich die Terrorzelle nannte, bekannte sich mit diesem selbst gezimmerten Film zu einer der schlimmsten Verbrechensserien im Nachkriegs-Deutschland.

Es waren nicht die Ermittler, die den Tätern auf die Spur kamen, es waren die Täter, die vor zehn Jahren der entsetzten Öffentlichkeit ihre Existenz verkündeten. Auch in unserem Medienhaus konnte man kaum fassen, was man sah. Drei der Morde waren allein in Nürnberg geschehen, dazu ein Bombenanschlag auf eine Kneipe in der Südstadt.

Wer hatte den Mördern geholfen, ihre Opfer auszukundschaften? Was wusste der Verfassungsschutz über die drei im Untergrund, wie nah waren seine Informanten an ihnen dran? Warum hatten die Ermittler die Opferfamilien so lange verdächtigt - und teilweise unbarmherzig gedemütigt - und die Täter in der Organisierten Kriminalität gesucht?

Behörden hatten versagt

Weder elf Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern noch der fünf Jahre währende Prozess gegen Beate Zschäpe konnten Antworten auf diese Fragen geben. Die Auseinandersetzung mit der fürchterlichen Mordserie brachte vielmehr zu Tage, dass die Sicherheitsbehörden versagt hatten.

Jetzt, unmittelbar vor dem zehnten Jahrestag der Selbstenttarnung des NSU, steht die Frage im Raum, welche Lehren die Behörden aus dem NSU-Terror gezogen hat.

In Nürnberg wird der drei NSU-Opfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar mit Bildern in der Nähe von Simseks Blumenstand gedacht.  

In Nürnberg wird der drei NSU-Opfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar mit Bildern in der Nähe von Simseks Blumenstand gedacht.   © Michael Matejka, NN

Thomas Haldenwang, seit November 2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und damit Nachfolger des umstrittenen Hans-Georg Maaßen, sagte in einer Diskussionsrunde in Berlin vor Journalisten, so etwas wie die NSU-Mordserie könne sich heute nicht wiederholen, da man die Behörde einer großen Reform unterzogen habe und energisch gegen die rechte Szene vorgehe.

Der Rechtsextremismus sei derzeit "die größte Herausforderung in Deutschland". Er nannte 228 Tote seit 1990, die auf das Konto von Neonazis gehen, die Zahl der gewaltbereiten Anhänger steige kontinuierlich. Die Neue Rechte, zu der er auch die Identitäre Bewegung und den Flügel der AfD sowie deren Jugendorganisation Junge Alternative zählte, nannte Haldenwang "geistige Brandstifter für spätere Taten". Besonders die Kampfsportveranstaltungen der Neonazis haben man im Blick, den über sie finanziere sich die Szene.

Haldenwang versicherte, man werde sich auch weiterhin an der Aufklärung des NSU-Komplexes beteiligen. Denn immer noch sei das Motiv für den Mord an der Polizistin Michèle Kieswetter unklar. Auch die Rolle des hessischen Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme hinterlasse viele Fragezeichen.

Mit einem abscheulichen Video, in der die Zeichentrickfigur "Paulchen Panther" vorkommt, bekannten sich die Terroristen zu ihren Taten.

Mit einem abscheulichen Video, in der die Zeichentrickfigur "Paulchen Panther" vorkommt, bekannten sich die Terroristen zu ihren Taten. © Repro: NN

V-Mann-Führer Temme hatte sich im Jahr 2006 in einem Kasseler Internetcafe aufgehalten, als dort Halit Yozgat erschossen wurde. Er will aber nichts gehört und gesehen haben.

Seda Basay-Yildiz, Rechtsanwältin aus Frankfurt und Nebenklagevertreterin der Nürnberger Opferfamilien Simsek und Özüdogru, ging Haldenwang scharf an: "Wenn Sie wirklich lückenlos aufklären wollen, müssen Sie alle Akten ungeschwärzt herausgeben!"

Die Nebenklagevertreterin Seda Basay-Yildiz fordert vom Verfassungsschutz die Herausgabe von Akten.

Die Nebenklagevertreterin Seda Basay-Yildiz fordert vom Verfassungsschutz die Herausgabe von Akten. © imago images/photothek/Janine Schmitz

Zu oft habe der Verfassungsschutz wichtige Daten nicht zur Verfügung gestellt. Ihre Mandanten seien enttäuscht und hätten resigniert, als sie erleben mussten, dass Verfassungsschutzmitarbeiter vor Gericht Fragen nicht beantworteten, weil man ihnen keine Aussagegenehmigung erteilt hatte, sagte die Anwältin.

Zudem seien wichtige Akten, etwa über den V-Mann Ralf Marschner, der Kontakt zu Mundlos und Böhnhardt gehabt haben soll, gelöscht worden. Auch die Hinweises eines weiteren V-Manns über den Aufenthalt des Trios noch vor dem ersten Mord im Jahr 2000 seien angeblich vernichtet worden, drei Jahre später aber wieder aufgetaucht. "Sie könnten aufklären, aber das tun sie nicht", klagte Basay-Yildiz.

Prof. Matthias Quent sieht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Prof. Matthias Quent sieht in der Bekämpfung des Rechtsextremismus eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. © Wolfgang Kumm, NN

Prof. Matthias Quent, Soziologe und Gründungsdirektor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena und Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, ​​​​​​​wies darauf hin, dass die Ursachen für Rassismus​​​​​​​ ("Rechtsextremismus ist radikaler Rassismus") vielschichtig und vom Verfassungsschutz nicht alleine zu bewältigen seien. Es sei vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dafür zu sorgen, ​​​​​​​dass sich "der Wind dreht".

Neues Gesetz ist nötig

Es gebe bereits viele Gruppen und Initiativen, die sich engagieren. Die neue Bundesregierung müsse diesen Prozess unterstützen und das diskutierte Demokratiefördergesetz endlich auf den Weg bringen, sagte Quent, der über die Radikalisierung des NSU promiviert hatte.

Als "neue gesellschaftliche Bedrohung" sieht er die Mobilisierung von Corona-Protesten durch Rechtsextremisten. Eine Entwicklung, die auch dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz große Sorgen bereitet.

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