Türkische Opposition in Haft: "Das war Erdogans Rache"

1.3.2019, 11:53 Uhr
Nachdenklich: der "Welt"-Journalist Deniz Yücel und die abgesetzte Bürgermeisterin Leyla Imret.

© Stefan Hippel Nachdenklich: der "Welt"-Journalist Deniz Yücel und die abgesetzte Bürgermeisterin Leyla Imret.

Auch Deniz Yücel hat das vielfach gesagt. Ohne die vielen Mahnwachen, Veranstaltungen und Briefe, die ihn in der Haft erreichten, hätte er die düstere Zeit in seiner nur sieben Quadratmeter großen, fensterlosen Zelle im türkischen Hochsicherheitsgefängnis in Silivri bei Istanbul kaum überstanden. "So was kommt an und es ist wichtig", sagte der frühere Welt-Korrespondent, der 367 Tage in türkischer Haft verbrachte. Bei seinem Auftritt im vollbesetzten Fabersaal des Nürnberger Bildungszentrums aber machte Yücel klar: "Um mich geht’s heute nicht."

In der Tat, Yücel wurde im Februar 2018 aus der Haft entlassen, auch wenn das Verfahren weiterläuft. Die frühere Führungsriege der pro-kurdischen HDP dagegen ist weiter im Gefängnis, unter ihnen auch der charismatische Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas. Sein Verbrechen: Seine Partei hatte bei der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1 Prozent souverän die hohe Zehn-Prozent-Hürde übersprungen. Der Traum von Präsident Recep Tayyip Erdogan, eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu erreichen, war vorerst zerstört. Erdogans AKP verlor erstmals seit ihrer Regierungsübernahme im Jahr 2002 sogar die absolute Mehrheit.

Wie reagierte Erdogan? "Das war Rache", sagte dazu bei der Nürnberger Veranstaltung Mithat Sancar, der Professor für Verfassungsrecht ist und seit 2015 für die HDP im türkischen Parlament sitzt. Der Präsident erklärte umgehend die Friedensgespräche mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK für gescheitert. Der seit 2013 geltende Waffenstillstand wurde aufgehoben. Es begann eine neue, blutige Konfrontation – und in der Folge wurde auch ein Großteil der HDP-Führung inhaftiert, Demirtas gleich am Anfang. "Für Erdogan war klar, wer der Hauptverantwortliche (für das gute HDP-Wahlergebnis) war: das war Demirtas", meinte Sancar.

Der 56-jährige Rechtsprofessor, der in Deutschland studiert hat und fließend Deutsch spricht, kennt den zehn Jahre jüngeren Demirtas schon seit rund zwei Jahrzehnten - er war einer seiner Studenten. Auf sein Drängen ließ er sich 2015 zur Kandidatur für die HDP überreden. "Ich bin stolz darauf, dass ich ein Freund und Weggefährte von Demirtas bin", so Sancar. Der Inhaftierte hatte ihm extra für die Veranstaltung in Nürnberg ein Brieflein übermittelt mit der Botschaft "Danke, Nürnberg".

Ganz untypischer Politiker

Demirtas ist ein für die Türkei ganz untypischer Politiker. "Er hat Einfluss auf einen großen Teil der türkischen Gesellschaft", so Sancar - weit über den kurdischen Landesteil hinaus. "Aber nicht wegen seiner Härte oder Skrupellosigkeit, sondern wegen seiner Freundlichkeit." Selbst Leute, die ihn zum ersten Mal träfen, hätten den Eindruck, sie seien schon ewig mit ihm befreundet. "Mit Selahattin hätten wir die Chance gehabt, die Spaltung in unserem Land zu überwinden", ist Sancar überzeugt.

Auch Leyla Imret sieht das ganz ähnlich. Die 31-Jährige war, wie sie in Nürnberg erzählte, ebenso von Demirtas fasziniert, weil er so überzeugend für die Gleichstellung der Frauen eintrat. Imret, die in Bremen aufgewachsen war, wurde 2014 zur Bürgermeisterin der Stadt Cizre gewählt – eine Sensation. Sie genoss hohe Anerkennung, ließ eine Kläranlage bauen, startete Frauenprojekte, ließ Spielplätze anlegen. Doch auch sie wurde, wie mehr als 100 andere kurdische Bürgermeister, von Ankara abgesetzt. Imret aber war die erste, die aus dem Amt entfernt wurde. "Eine besondere Ehre", wie Yücel spöttisch anfügte.

Demirtas sitzt weiter in Edirne ein, an der Grenze zu Bulgarien, so weit entfernt wie nur möglich von seiner Heimatstadt Diyarbakir im Südosten des Landes. In 31 Einzelverfahren gegen ihn fordert die Staatsanwaltschaft 450 Jahre Gefängnis.

In der Zelle ist Demirtas auch zum Autor geworden. Er hat einen kleinen Band mit dem Titel "Morgengrauen" geschrieben, mit anrührenden kleinen Geschichten aus seinem Gefängnisalltag, die trotz der grimmigen Situation von einer tiefen Menschlichkeit, sogar Humor durchzogen sind. Eine dieser Geschichten, ein Schreiben "An die Gefängnis-Lese-Kommission", wurde von der Nürnberger PEN-Stipendiatin, Journalistin und Filmemacherin Sehbal Senyurt Arinli zunächst auf Türkisch vorgelesen, dann von Deniz Yücel auf Deutsch. Demirtas vermutet in seinem Schreiben, dass auch die Gefängniszensoren die Nase voll davon hätten, seine ganzen Post zu lesen. "Ich frage mich nämlich, warum Sie sich diesen Beruf ausgesucht haben", will er wissen.

Schon bei der Einführung hatte Ralf Nestmeyer, PEN-Vizepräsident und Writers-in-Prison-Beauftragter, darauf hingewiesen, wie viele Journalisten, Schriftsteller und andere Intellektuelle in den türkischen Gefängnissen einsäßen. Er zitierte da auch einen Witz, der in der Türkei kursiert. Ein Gefängniswärter bescheidet da einem Häftling, das Buch, das dieser lesen möchte, sei leider nicht vorhanden, der Autor aber schon.

Nach alldem, was im Kurdengebiet vorgefallen ist, wäre nicht erstaunlich gewesen, Sancar oder auch Leyla Imret hätten sich zu bitteren Verwünschungen hinreißen lassen. Doch das war nicht zu vernehmen. "Mit Hass kann man keine Politik machen", beschied der Rechtsprofessor. Gleichwohl ließ er keinen Zweifel an der Entschlossenheit, weiter um eine bessere Zukunft zu ringen. "Wir hören nicht auf", versicherte er.

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