Vor 20 Jahren: NSU tötet Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg

5.9.2020, 06:00 Uhr
Vor 20 Jahren: NSU tötet Blumenhändler Enver Simsek in Nürnberg

© Foto: Roland Fengler

Als die Beamten eintreffen, finden sie den Blumenhändler Enver Simsek, 38 Jahre alt, auf dem Rücken liegend auf der Ladefläche seines Kastenwagens, die Füße zur Schiebetür. Er ist lebensgefährlich verletzt. Ein Schuss aus einer Pistole hat seine Unterlippe und das linke Auge durchschlagen, drei weitere Projektile stecken in seinem Kopf, zwei andere in der rechten Schulter, der linke Unterarm ist durchbohrt, ein Streifschuss hat seinen Ellenbogen verletzt. Die Täter hatten aus nächster Nähe mit zwei Pistolen neun Mal gefeuert, nur einmal ihr Opfer verfehlt.

Zwei Tage später stirbt der Familienvater im Nürnberger Klinikum. Er hinterlässt seine Frau Adile, Semiya, die 14 Jahre alte Tochter, und seinen Sohn Abdulkerim (13). Erst elf Jahre später, als sich im November 2011 Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nach einem missglückten Banküberfall in Eisenach das Leben nehmen und eine der Tatwaffen entdeckt wird, eine tschechische Ceska 83, Kaliber 7,65 Millimeter, ist klar, dass Enver Simsek das erste von zehn Opfern ist, die die Rechtsterroristen des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) aus rassistischen Motiven getötet haben.


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Beate Zschäpe, die überlebende des NSU-Kerntrios, verschickt in den Tagen nach den Selbstmorden in vorbereiteten Umschlägen eine zynische Bekenner-DVD bundesweit an Medien — ein Exemplar wird von einem bis heute Unbekannten persönlich bei den Nürnberger Nachrichten abgegeben. In einer grausigen Szene ist darin der sterbende Blumenhändler zu sehen: Böhnhardt und Mundlos hatten ihre Opfer kaltschnäuzig am Tatort fotografiert.

Wer sind die Kundschafter?

Wieso musste der türkische Familienvater sterben? Simsek, der einen Blumengroßhandel im hessischen Schlüchtern betrieb, verkaufte nur deshalb an jenem 9. September 2000 Lilien, Chrysanthemen und Dahlien an der Liegnitzer Straße unweit des Reichsparteitagsgeländes, weil sein Mitarbeiter noch im Urlaub weilte.

Wer hatte den Tatort ausspioniert? Wer hatte Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe geholfen? Wer hatte sie danach auf den Schneider Abdurrahim Özüdogru (49) aufmerksam gemacht, der versteckt in der Nürnberger Südstadt seine Schneiderei führte? Böhnhardt und Mundlos erschossen Özüdogru neun Monate später, am 13. Juni 2001.


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Wer lenkte ihre Blicke auf Ismail Yasar (50), den sie am 9. Juni 2005 in seinem Imbissstand in der Scharrerstraße in Nürnberg töteten? Und auf die sechs weiteren Migranten und die deutsche Polizistin Michelle Kiesewetter, die der NSU ermordete?

Der Generalbundesanwalt ermittelt deswegen immer noch gegen neun namentlich bekannte Beschuldigte, sagt Pressesprecher Markus Schmitt. Ebenso werden Strukturermittlungen gegen bislang Unbekannte geführt, die strafrechtlich mit dem NSU in Verbindung stehen könnten. Doch die "Indizienlage" sei bislang nicht ausreichend für eine Anklageerhebung gewesen. Einen "Schlussstrich" wolle man derzeit aber nicht ziehen, betonte Schmitt.


NSU ist noch immer Bezugspunkt für Extremisten


Nürnberg, die Stadt des Friedens und der Menschenrechte, beginnt sich langsam vom Schock zu erholen, dass 55 Jahre nach dem Terror der Nationalsozialisten nun Neonazis unerkannt auf ihrem Terrain morden konnten. Man habe zu Beginn der Ermittlungen gerne den Mutmaßungen geglaubt, türkische Clans steckten hinter den Verbrechen oder gar die Drogenmafia, räumt Martina Mittenhuber vom Menschenrechtsbüro der Stadt ein. Doch heute sei man sensibilisiert, schaue bei den Umtrieben der Rechten sehr genau hin.

Es sei "viel fruchtbares und wirkungsvolles zivilgesellschaftliches Engagement" entstanden, sagt Mittenhuber. Kundgebungen der Rechten nehme man nicht einfach hin, es formiere sich sofort eine Gegendemo: "Nürnberg hält zusammen."

Mittenhuber mahnt mit Blick auf Polizei und Untersuchungsbehörden, die allzu lange die Opferfamilien verdächtigt hatten, etwas mit den Morden zu tun zu haben, eine Geste der Versöhnung an. Der einfache Satz: "Es tut uns leid", würde viel helfen, unterstreicht sie.

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