Corona und die Gesellschaft: Die Lage nach 100 Tagen Lockdown

10.2.2021, 05:56 Uhr
Weg damit, endlich - im Winter 2021 sind die Menschen der Pandemie überdrüssig. Aber das Leben mit der Maske wird weitergehen.

© Wolfgang Kumm, dpa Weg damit, endlich - im Winter 2021 sind die Menschen der Pandemie überdrüssig. Aber das Leben mit der Maske wird weitergehen.

Die ältere Dame lebt im Heim, einem besseren, sie ist eine gebildete, musikalische Frau, freundlich und auf völlig unaufdringliche Weise vornehm. Gelegentlich ruft sie, als Abonnentin der Nürnberger Nachrichten, in der Redaktion an, meistens, wenn ihr ein Text gefallen hat, gelegentlicher Tadel fällt milde aus. "Die blöde Impfung", sagt sie jetzt, "brauche ich nicht so dringend, was mir fehlt, ist ein Friseur."

Was für ein prächtiger, munterer, heiterer Satz. Ein Satz, den man sich ausdrucken und einrahmen möchte, ein Satz voller Lebensfreude. Blöde Impfung: Kein vernünftiger Mensch kann das ernsthaft denken, die vornehme ältere Dame tut das natürlich auch nicht, gar nicht, aber man ertappt sich beim Gedanken, wie schön Unvernunft immer noch sein kann – und wie schön es ist, auch einmal von anderen Sorgen zu hören als nur noch von denen um die Gesundheit.

In nun schon einigen Gesprächen hat die Dame noch nie das Wort "Risikogruppe" verwendet, auch andere Pandemie-Wörter nicht, die sie seit bald einem Jahr dauernd in der Zeitung liest. Jaja, sagt sie, müsst ihr ja schreiben, ist ja auch wichtig. Wenn es ihr zu viel wird, greift sie zu einem dicken Band über Lazarus Spengler, einen Nürnberger Ratsherrn, 16. Jahrhundert. Irgendwann will sie wieder hinaus ins Leben, unter Leute, und da nutze ihr, sagt sie, eine Impfung erst einmal noch gar nichts. Da brauche es den Friseur.

Wer nur ans Überleben denkt, vergisst das Leben

Im Hintergrund hört man Schubert, den Nachtgesang im Walde, aber nur, weil es so ein schönes Stück ist. Im Heim, sagt die Dame, hören es auch die anderen gerne, und, das noch schnell für heute, es ist nicht so, dass alle bloß apathisch dahindämmern würden und aufs Ende der Welt warten. Risikogruppe. Wer nur ans Überleben denkt, sagt sie, vergisst das Leben.

Ach, bitte, rufen Sie bald wieder an, ja? Reden wir über Schubert, Fußball, das Wetter, Frisuren, zur Not auch über Lazarus Spengler. Über Gott und die Welt, über alles, bloß nicht über Inzidenzzahlen und Impfquoten. Man mag es ja – darf man das sagen? – nicht mehr hören, und man mag auch kein "Bitte bleiben Sie gesund" mehr hören. So sehr man es jedem wünscht.


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Wahrscheinlich darf man es sagen. Die Corona-Pandemie ist eine Bedrohung, die die Welt weiterhin aushalten muss, es nutzt rein gar nichts, dass das den meisten Menschen gerade vor allem sehr auf die Nerven geht, mehr denn je. Dass es müde macht, mürbe. "Die Menschen sind zunehmend erschöpft und genervt", hat Renate Köcher, Geschäftsführerin des Demoskopie-Instituts Allensbach, gerade der Augsburger Allgemeinen gesagt. Genau das ist der Eindruck.

Eine neue Mentalität, weg vom Ich, hin zum Wir

Der erste Stillstand des öffentlichen Lebens ließ sich ertragen, alles war neu, schockierend und beängstigend, man sah die beklemmenden Bilder aus Bergamo und New York, die vielen Särge – aber es wurde Frühling, die Menschen setzten sich, zwei kleine Biere im Rucksack, aufs Fahrrad und fuhren hinaus in die Natur. Man konnte alles auch als eine willkommene Entschleunigung empfinden, die Leute hielten zusammen, sie kauften füreinander ein, sie betreuten gemeinsam Alte und Kinder. Wer weiß, hieß es bald, was man daraus lernen könne als Gesellschaft. Eine neue Mentalität, weg vom Ich, hin zum Wir. Die Krise als Chance, so las und hörte man es überall.

Die Zahl der Infizierten sank, es würde vorbeigehen.

Jetzt ist es Winter, ein oft grauer und regnerischer, nun verschneiter, nichts ist mehr neu, und es ging nicht vorbei. Als Gewohnheit ist eine Bedrohung mehr Last als Schrecken. Ein nicht mehr endender Nachtgesang im Walde, aber in einem zunehmend finsteren – schon wieder 100 Tage dauert dieser zweite Lockdown in Bayern nun, ein Ende ist, vor dem heutigen Treffen der Entscheidungsträger, nicht in Sicht, und alle Anstrengungen waren – vergebens? Es bleibt das Gefühl, man lebe auf einer Welt, die zwar noch rund ist, aber mit diesen Virus-Stacheln (wie heißen die eigentlich) dran, einem Globus, der auf ein Sars-CoV-2-Kügelchen geschrumpft ist (obwohl man die ja gar nicht sehen kann).


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Und es bleibt das Gefühl, dass das eine verkehrte Welt sein könnte. Es geht nicht um die Wirrköpfe, es gibt nichts zu leugnen – genauso könnte man die Photosynthese leugnen oder die Schwerkraft, die deshalb nicht aufhören würden zu existieren. Das Virus geht auch nicht weg, es ist da, es ist schlau, es mutiert. Weil man nicht mehr in den Wald radeln kann, ist es gefühlt auch am Wetter schuld, an Schneematsch und Regen.

"Ich lebe nur noch in Sorge um die Eltern"

Aber möglicherweise geht es ein bisschen um die Weltwahrnehmung, und vielleicht ist es vor allem das, was einem zunehmend schwerer aufs Gemüt drückt. Alles ist Corona, überall – nicht nur dort, wo Menschen gesundheitlich oder wirtschaftlich betroffen sind.

"Ich lebe nur noch in Sorge um die Eltern", das hat eine Bekannte, eine sehr vernünftige, lebenskluge Frau, Mutter von vier Kindern, gerade geschrieben. Die Eltern sind alt, aber völlig gesund, sie leben in einer Welt, in der es Krebserkrankungen gibt, Herzinfarkte, Autounfälle und jede Menge Umweltgifte. Aber soll man zurückschreiben: Die Welt ist immer auch eine Bedrohung gewesen? Wer nur ans Überleben denkt, vergisst das Leben? Freut euch des Lebens? Oder wäre das schon taktlos?

Sorge, Beklemmung, Resignation. Die Impfung zum Beispiel: Im Frühjahr war die Aussicht darauf ein heller Strahl der Hoffnung. Und wie schnell ging es dann damit. Aber jetzt soll die Impfung nicht das sein, was sie vermutlich ist, ein Segen, sondern wird als eine Zumutung wahrgenommen, weil es langsam vorangeht und umständlich. Der Gedanke, dass es wahrscheinlich eine logistische und medizinische Meisterleistung wäre, sollten zwei Jahre nach den ersten Ansteckungen 80 Millionen Menschen im Land geimpft sein – eine solche Kampagne ist beispiellos –, geht darüber beinahe unter.

Normalität ist so ein Wort

Normalität ist so ein Wort. Es lässt sich schlecht definieren, was das eigentlich sein sollte, Normalität. Man ahnt inzwischen nur, was es nicht ist. So liest man ein Interview mit einer Psychologin – überall reden jetzt Psychologen, sie haben die Virologen überflügelt – in einer mittelgroßen deutschen Tageszeitung, es geht um Jugendliche, die sich trotzdem treffen, heimlich auf ein Bier.


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Ihr Wissen um, im Falle einer Ansteckung, milde Krankheitsverläufe würde sie leichtsinnig machen, sagt die Psychologin. Sagt sie tatsächlich, dann geht das Interview einfach weiter, ohne den Gedanken, dass sich Jugendliche für Krankheitsverläufe manchmal gar nicht so sehr interessieren, dass das völlig in Ordnung ist, dass sie das tun wollen, was Jugendliche gern tun, sich zu dritt, zu viert treffen, ein Bier trinken, unvernünftig sein, leben, und, ja, auch einmal gegen Regeln verstoßen. So unbeschwert wie in diesem Alter tut man das nie wieder.

Aber ist das nicht – verboten? Man denkt an die mittelalte Mutter, die es ihren Kindern verboten hat, weil es verboten ist. Man denkt an diesen neuen deutschen Verbots-Fetischismus, man glaubt, wieder einen Untertanen-Ton zu hören, der sich zu verselbständigen beginnt. Ihre Kinder fährt die Verbots-Mutter seit Jahren jeden Tag zur Schule und wieder heim, in einem monströsen SUV, es sind jeweils bloß drei Kilometer, das ist aber nicht verboten. Natürlich, die Vorsichtmaßnahmen sind sinnvoll, nur: Muss man Verbote nicht immer auch in Frage stellen? Aber auch was Solidarität, das schöne Wort aus dem Frühlings-Lockdown, bedeutet, wird zunehmend schwerer zu fassen, das zählt zu den bedrückenden Erfahrungen. Denunzianten, die nach der Polizei rufen. Gehört nicht ein Gespür für zivilen Ungehorsam zu einem – nun ja: gesunden – Sozialverhalten? Würde dieses schöne Land sonst nicht immer noch aus absolutistischen Kleinfürstentümern bestehen?

Weltwahrnehmung funktioniert über Sprache

Gerade klang die Bundeskanzlerin ein wenig so, so klein absolutistisch, leicht verschoben in ihrer Weltwahrnehmung. Es werde "keine neuen Freiheiten" geben, sagte Angela Merkel beim – noch so ein Wort – "Impfgipfel", es passte nicht zu dieser besonnenen, empathiefähigen Frau. Und es gibt ja Freiheiten, sie sind auch nicht neu, sondern Jahrzehnte alt, sie stehen, aus sehr guten Gründen, in der Verfassung dieses Staates. Sie habe, sagte die Kanzlerin später, sich unglücklich ausgedrückt.

Weltwahrnehmung funktioniert über Sprache, die Sprache hat sich verändert mit Corona, über 1000 neue Wörter hat das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim zusammengetragen. Neu sind die wenigsten, sie werden bloß anders verwendet. Die Leute sagten nicht "Office", als sie noch ins Büro gingen; "Office", nämlich "Home-Office", sagen sie erst, seit es sich eben nicht mehr um ein Büro handelt, sondern um einen Küchentisch, an dem Kinder, die vorher nicht zum "Schooling", sondern zur Schule gingen, jetzt etwas betreiben, was angeblich "Home-Schooling" ist.

Erschöpfung, Mehltau, aber bleischwerer Mehltau?

Wenn Begriffe konstruiert sind, gilt das auch für die Inhalte, es wirkt wie ein Etikettenschwindel. Muss man dauernd "Hotspot" sagen, "Superspreader"? Müssen erwachsene Menschen, sogar in den Nachrichtensendungen, in Baby-Sprache reden, vom "Pieks", wenn es um eine Impfung geht? Hier ein Verbot, da ein Pieks, und ab ins Home-Office, liegt in all dem nicht eine seltsame Verbiedermeierung über dem Masken-Land? Erschöpfung, Mehltau, aber bleischwerer Mehltau?

Darf man das jetzt sein, ungeduldig, genervt? Es sind so viele Fragen, auf die es noch keine schlüssigen Antworten gibt, es gibt nur dieses hilflose Gefühl. Noch ein Psychologe: "Reaktanz", sagt der einer anderen Zeitung, erlebe man gerade, das bezeichne einen wachsenden inneren Widerstand gegen Einschränkungen der individuellen Freiheit.


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Aha. Aber vielleicht hilft ein innerer Widerstand sogar gegen das Virus. Im Umgang damit. Gegen den Mehltau. Vielleicht kann man einfach damit beginnen, sich auf einen Plausch beim Friseur zu freuen.

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