Ein Jahr ohne Anlässe: Das macht Corona mit den Menschen

2.12.2020, 15:33 Uhr
Mehr als „Bussi, Bussi“: Beim Dinner in großer Runde, wie hier auf dem Unternehmerball 2016, ergeben sich für viele Menschen auch beruflich interessante Kontakte.

© Michael Matejka Mehr als „Bussi, Bussi“: Beim Dinner in großer Runde, wie hier auf dem Unternehmerball 2016, ergeben sich für viele Menschen auch beruflich interessante Kontakte.

Alexander Brochier freut sich gar nicht über die Zwangspause. "Gesellschaftlich ist es ein verlorenes Jahr", sagt der Unternehmer. Er ist gerne mit seiner Frau Birsen in der Gesellschaft unterwegs – auch um Kontakte zu halten. Veranstaltungen wie der Unternehmerball, der letztes Wochenende gewesen wäre, seien ein Muss für viele. "Nirgendwo wird so viel Geschäftliches ausgemacht wie bei solchen Gelegenheiten. Das ist kein Klischee, das ist so", sagt Brochier. Das lockere Gespräch am Rande ergibt oft wichtige Kontakte."Das kann ein Telefonat nicht ersetzen."

Auch mal lästern können

Christian Vogel geht das ähnlich. Im politischen Bereich sind die Gespräche, die nebenbei laufen, sehr wichtig. "Fast das Wichtigste", sagt er. Als Dritter Bürgermeister Nürnbergs ist er normalerweise auf unzähligen Veranstaltungen unterwegs. Jetzt wäre er oft mit dem Christkind auf Tour. In Altenheimen oder Kindergärten. Dass das nicht geht, bedauert er sehr. "Die Termine berühren mich immer selber", sagt Vogel.

Er ist ein Typ, der gerne unter Menschen ist. "Ich red’ gern mit den Leuten", sagt er. So gut Online-Alternativen auch seien – "das Zwischenmenschliche geht verloren", findet er. Auch in der Fraktionsarbeit, die über Videokonferenzen abgehalten wird. "Es ist ein Abhaken der Tagesordnung", formuliert es Vogel.

Professor Christian Schicha lehrt Medienethik an der FAU.

Professor Christian Schicha lehrt Medienethik an der FAU. © privat

"Diese informellen Gespräche sind extrem wichtig", bestätigt Christian Schicha, der Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen lehrt. Kaffeepausen, Flurfunk und auch mal Lästerei – "das ist typisch menschlich und nicht zu unterschätzen. Das kriegt man über Videokonferenzen nicht eingefangen." Es gehe bei Veranstaltungen nie nur um den reinen Inhalt. "Da könnte man auch ein Buch lesen und hat alles komprimierter."

Es geht vor allem darum, zu netzwerken, im Gespräch zu bleiben. "Sehen und gesehen werden. Für manche ist das sogar überlebenswichtig", sagt Schicha. Für Künstler etwa. Denn aus einer Veranstaltung ergibt sich vielleicht ein anderes Engagement. Events sind oft auch Stellenbörsen.

Jeder Mensch hat einen Selbstdarstellungstrieb

Davon abgesehen habe jeder Mensch einen Selbstdarstellungstrieb, sagt Schicha. Und der ist nichts Schlechtes, sondern auch ein Motor "Wenn ich live vor meinen Studenten stehe, habe ich einen anderen Antrieb", stellt der Professor bei sich selbst fest. "Wir wollen im sozialen Leben anerkannt sein, wir wollen beliebt sein. Dafür strengen wir uns an, wir zeigen Leistung. Und dafür wollen wir Lob." Und zwar als direkte Reaktion eines Gegenübers. Ein "Gefällt mir" auf Facebook und Co. zu bekommen, kann das nicht ersetzen, sagt Schicha. "Die Face-to-face-Kommunikation, der direkte Austausch, das ist es ja, was uns Menschen auszeichnet."

Statt "face to face" kommuniziert Opernball-Friseur Marcel Schneider bei sich im Salon vor allem mit Masken: "Sehr traurig" findet er diese Zeit. Auch er bewegt sich sonst gerne auf der gesellschaftlichen Bühne. "Mir geht’s nicht um Schickimicki", betont Schneider. Er vermisst den echten sozialen Kontakt. "Ich bin einer, der andere gerne drückt und busselt." Auch in der "Bussi-Bussi-Gesellschaft" kann man echte Begegnungen haben. Menschen treffen, mit denen sich ein Gespräch ergibt, das übers Buffet und das Wetter hinausgeht. Menschen, denen man ohne diesen Anlass nie begegnet wäre.


Hier die Bilder zum in Erinnerungen schwelgen


"Ein Chat kann das niemals ersetzen", sagt Schneider. Die oft gepriesene Entschleunigung stellt er bei sich nicht fest. Als er seinen Salon beim ersten Lockdown zusperren musste, ratterte die Maschine im Kopf umso mehr. Zum Friseur zu gehen, ist für viele seiner Kunden jetzt fast ein Event, hat er festgestellt. Für 20 Hochzeiten macht er sonst im Jahr die Frisuren, 2020 waren es gerade mal zwei.

"Ein Jahr voller Downlights"

Wo kein Ball, da kein Ballkleid nötig. Das spürt auch die Modebranche. Bei Dominic Armbrüster von "Herzog Brautmoden" in der Nürnberger Innenstadt hängt die Abendgarderoben-Kollektion für 2020 "quasi unberührt" im Laden. Für 2021 hat sie erst gar nichts geordert. "Geschäftlich eine Katastrophe", sagt Armbrüster. Davon abgesehen fehlt ihr das gesellschaftliche Leben auch persönlich. "Ich gehe seit 30 Jahren auf sämtliche Bälle hier, natürlich vermisse ich das", sagt sie. Gesund zu bleiben, geht aber vor, betont sie.

"Wenn es jetzt einen Ball gegeben hätte, ich wäre nicht hin." Auch sie ist kein Typ für Entschleunigung. Im Lockdown hat sie ihr Haus in Fürth auf den Kopf gestellt. Jeden Abend plötzlich zu Hause zu sein, da stelle sich schon "eine gewisse Langeweile" ein.

"Es ist ein Jahr voller Downlights. Uns fehlen die Highlights", formuliert es Simon Röschke. Die Agentur "roeschke&roeschke", die er zusammen mit seinem Bruder Andreas führt, organisiert sämtliche Bälle in Nürnberg, darunter Opernball und Unternehmerball. So entspannt wie jetzt sei er zwar noch nie um diese Jahreszeit gewesen, aber zum Glück lebe die Agentur nicht nur von Events. "Dann wären wir schon längst weg."

Gesellschaftliche Anlässe sind auch ein wichtiger Rhythmus in unserem Jahr, sagt Schicha. Und oft auch im Tagesablauf. Die gewohnte Kombination aus Arbeit, sozialen Kontakten und Freizeitaktivitäten nicht mehr zu haben, könne vielen Menschen massive Probleme bereiten. "Sich aufzubrezeln, einen Anlass zu haben, auf den man sich freut", sei ein wichtiger Motor auch für die Psyche, sagt Schicha. Und verweist auf den Soziologen Erving Goffman. "Wir alle spielen Theater" heißt dessen Buch, in dem es um die Selbstinszenierung im Alltag geht.

Wir spielen alle mehrere Rollen

Wir alle spielen mehrere Rollen, erklärt Schicha. In einem Abendkleid oder im Smoking auf einem Ball sind wir in einer anderen Rolle als in der Jogginghose auf dem Sofa. Im Büro spielen wir eine andere Rolle als als Elternteil. "Jetzt werden wir oft auf eine oder zwei Rollen reduziert", vor allem Menschen, die lange schon im Homeoffice arbeiten. "Wir erleben nichts mehr und erleben uns auch nicht mehr anders", sagt Schicha. Uns stattdessen in den sozialen Medien darzustellen, macht es nicht wett. "Die dienen ja auch oft dazu, sich zu verabreden oder sich auf eine gemeinsame Veranstaltung zu freuen", sagt Schicha. Wenn das Leben aber nur noch der Lockdown ist, dann bleibt am Ende nur noch das Frühstücksei, das man fotografiert. "Das ist nicht erhellend und schon gar nicht abendfüllend."

Plötzlich mehr Zeit zu haben, genießen trotzdem einige. Radiomoderator Florian Kerschner, der sonst bei vielen Anlässen abends unterwegs war, zum Beispiel. "Mir geht es richtig gut", sagt er. Dass ihm nicht langweilig wird, dafür sorgt sein eineinhalbjähriger Sohn. Dass Ruhe nicht so übel ist, darauf hätte man auch ohne Pandemie kommen können, räumt er ein.


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Auch Dagmar Wöhrl vermisst die gesellschaftliche Bühne nicht besonders. Sie ist ohnehin viel auf Achse, etwa unterwegs zu den Drehs der TV-Sendung "Höhle der Löwen" in Köln. "Ich komm’ fast nicht zum Verschnaufen." Bälle und Veranstaltungen vermisst sie weniger. Dass sie zu einem ihrer sozialen Projekte in Sri Lanka nicht reisen kann, macht der ehemaligen CSU-Bundestagsabgeordneten mehr Sorgen. Und auch sie merkt das Manko sozialer Medien. Etwa, wenn sie bei Geschäftskontakten Menschen zum ersten Mal trifft, aber nur online. "Ob eine Person Strahlkraft hat, das kann ich nur im echten Gegenüber feststellen."

Wir brauchen andere Menschen

Mehr Zeit, um Bücher zu lesen, im Wald spazieren zu gehen – könnte uns das gesellschaftlich nachhaltig beeinflussen? Christian Schicha glaubt nicht daran. Schließlich hat sich der Mensch die Welt weitgehend freiwillig so gestaltet. "Würden wir alle die Entschleunigung, den Konsumverzicht und das Nachdenken so wahnsinnig schätzen, dann wäre die Konsumindustrie nicht so ausgeprägt."

Sich auf Dauer nur selbst genug zu sein, dafür sei der Mensch als soziales Wesen nicht geschaffen: "Wir sind nicht in der Lage, uns nur mit uns selbst zu befassen", sagt Schicha. Eines dürfte im Wert sicher gestiegen sein: der echte Kontakt zu anderen Menschen. So wie es Florian Kerschner formuliert, empfinden es viele in der Gesellschaftsszene: "Wir freuen uns tierisch, wenn wir uns alle wiedersehen!"

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