Expertin über NS-Gelände in Nürnberg: "Reine Provokation"

6.10.2020, 19:07 Uhr
Das Reichsparteitagsgelände stellt ein schweres Erbe für Nürnberg dar, über seine Erhaltung wird regelmäßig diskutiert.

© e-arc-tmp_20150629-144926-002.jpg, NN Das Reichsparteitagsgelände stellt ein schweres Erbe für Nürnberg dar, über seine Erhaltung wird regelmäßig diskutiert.

Was ist das Provozierende am Nürnberger Reichsparteitagsgelände?

Rachel Salamander: Das ganze Gelände ist eine reine Provokation. Allein schon auf dem Gelände zu stehen, ohne noch darüber nachzudenken, wo man sich befindet, löst eine emotionale und physische Reaktion aus. Jeder spürt sofort, dass hier der Wille zur Macht regiert und dass von hier nichts Gutes ausging. Ein unguter Geist schnürt einem die Luft ab. Die Megalomanie des Geländes führt unmittelbar vor Augen, wie verschwindend klein man gegenüber der übermächtigen Aussage des Platzes ist.


Reichsparteitagsgelände: "Man hat sich gescheut, den Ort der Kunst zu übergeben"


Nach dem Überrumpelungseffekt macht sich dann das historische Wissen breit: Mit dem Reichsparteitagsgelände entstand 1934 eine der geschichtsträchtigsten Bühnen des Nationalsozialismus. Nur mit überwältigenden Massen war dieser Platz zu füllen, die hier versammelte Volksgemeinschaft machte aus erbärmlichen Einzelkreaturen triumphale Heroen.

Expertin über NS-Gelände in Nürnberg:

© Foto: imago/Markus Götzfried

Hitler nutzte Nürnbergs imperialen Rang und aktivierte eine Reichsnostalgie, die aus der ehemaligen "Stadt der Reichstage" eine Stadt der Reichsparteitage machte. Seine Reichsherrlichkeit mit allen Folgen zelebrierte er auf dem Reichsparteitagsgelände. Auf Nürnberg lasten die Ungeheuerlichkeiten der deutschen Geschichte, denken Sie nur an die hier 1935 erlassenen "Rassegesetze" und ihre Wirkungen. Dass die nachfolgenden Generationen mit dieser historischen Monstrosität umgehen müssen, ist für uns eine Provokation, eine besondere Härte der Geschichte, auf die wir antworten müssen.

Wenn Sie über das Areal gehen, was denken Sie: War es gut, diese Relikte des NS-Wahnsinns zu erhalten?

Salamander: Die Frage ist irrelevant. Sie sind da. Einfacher wäre es ohne sie, dann wäre das deutsche Nationalgefühl nicht ständig mit einer "Dauerpräsentation der Schande" (eine Walser-Aussage, aber im Zusammenhang mit dem Berliner Holocaust-Mahnmal) konfrontiert. Andererseits provozieren diese Relikte eine permanente geschichtliche Auseinandersetzung mit der Hitlerei. Wir können historische Fakten nicht ungeschehen machen. Wir können das Erbe der Geschichte nur als Ganzes antreten, nicht zwischen genehmen und unerwünschten Teilen eine Wahl treffen.

Bleiben wir bei den baulichen Hinterlassenschaften: Wie wirkt es auf Sie, wenn Jugendliche unbedacht die Hand zum Hitlergruß heben, sobald sie auf der Rednerkanzel der Zeppelintribühne stehen?

Salamander: Ja, der Ort provoziert! Zu was auch immer. Und wenn es sein muss, sogar ein Verbot zu übertreten und ein Tabu zu brechen. Oben stehend, dieses riesige Gelände unter sich überblickend, evoziert dies schon eine gewisse Präpotenz. Unbedacht die Hand zum Hitlergruß heben, gibt es nicht. Auch mit sehr wenig zeitgeschichtlichem Wissen haben die Jugendlichen die Bilder der Hitlerschen Machtdemonstration im Kopf. So viel Hitler wie gegenwärtig im TV-Programm war noch nie, wie der Historiker Norbert Frei sagt. Hitler ist ein richtiger Fernsehstar.

Die Stadt Nürnberg hat über Jahrzehnte einen bewussten Bruch mit den NS-Hinterlassenschaften und der Erinnerung an die Nazi-Propaganda vollzogen. Vom Bob-Dylan-Konzert bis Rock im Park wurde das Gelände buchstäblich bespielt. Ist das Zeppelinfeld ein geeigneter Ort für Konzerte?

Salamander: Der Ort verlangt nach starken Antworten. Wenn die Konzerte der Größe des Platzes gewachsen und diese zu überspielen imstande sind, dann natürlich auch Konzerte. Heilig ist der Ort bestimmt nicht . . .

. . . und wie sieht es mit Ihrem Verständnis für Autorennen aus?

Salamander: Genauso.

Reden wir über Kunst auf dem Reichsparteitagsgelände: Viel wurde versucht, wenig ist gelungen. Wie lautet Ihre Vision?

Salamander: Die würde den Rahmen unseres Interviews sprengen. Ein Nutzungskonzept für das Reichsparteitagsgelände ist eine Jahrhundertaufgabe. Eines ist jedoch sicher: Jede Kunst dort muss mit Power auf den überdimensionierten Raum mit seiner Ästhetik reagieren, immer der Inszenierung der Macht etwas entgegenstellen.

Und gibt es literarische Annäherungsformen an das Gelände?

Salamander: Einen Roman oder ein Gedicht oder ein Theaterstück über das Gelände? Auf jeden Fall muss ja dem Ort mit Aufklärung entgegengetreten werden, und zwar mit allen Formen der Kunst, filmisch, akustisch, musikalisch et cetera, et cetera, multimedial sozusagen. Aber vor allem mit dem Wort. Die Sprache muss den Platz besetzen, ihn besprechen mit der gesamten für diesen Ort relevanten Literatur. Mit Büchern zum Nationalsozialismus, auch regional zu Nürnberg, und der Zeitgeschichte, darunter das ganze Spektrum des Antisemitismus, des Widerstandes, des Exils, besonders jedoch mit Büchern zur jüdischen Geschichte und Tradition, um dem Jüdischen im öffentlichen Bewusstsein wieder Präsenz zu verleihen. All die Stimmen der Vernichteten mit ihren Dokumenten und all die Zeugnisse der Überlebenden müssen zu hören sein, von Paul Celan bis Ruth Klüger, von Imre Kertesz bis Ruth Westheimer. Das ganze Programm der Literaturhandlung eben.

Bei allem – verständlichen – Werben der Stadt um eine Aufrechterhaltung des Nazi-Propaganda-Ortes: Wird die pädagogisch-didaktische Arbeit am Ende erfolgreich sein oder können die Steine nach dem Ende der Ära der Zeitzeugen nicht mehr zum Sprechen gebracht werden?

Salamander: Bisher waren es auch nicht nur die Zeitzeugen oder die pädagogische Arbeit, die die Steine zum Sprechen brachten. Das stete Ringen um den richtigen Umgang mit diesem überfordernden Erbe hielt die Geschichte über 75 Jahre lebendig. Jede Generation bezieht sich auf die eigene, vergangene Geschichte und definiert so auch ihren Anspruch, den sie auf die Gegenwart und Zukunft hat. Jede Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bildet Kriterien heraus, wie man leben möchte: zum Beispiel beim Rekurs auf die NS-Zeit in Distanz zu ihr, demokratisch oder nicht. Die Grausamkeiten des Dritten Reiches und die totale Niederlage im Weltkrieg bleiben die vorrangigen Momente der Abschreckung.

Es gibt durchaus kritische Stimmen, die das viele Geld, das in den Ort der Täter fließen soll, mit einer Portion Skepsis begleiten. Was rechtfertigt die 80 bis 100 Millionen Euro, die voraussichtlich in den Erhalt fließen werden, aus Ihrer Sicht?

Salamander: Wie man es macht, macht man es falsch. Auch das ist eine Provokation. Diese verdammte Geschichte! Lässt man das Gelände verfallen, vernichtet man Geschichte. Steckt man diese Millionen zum Erhalt hinein, besteht die Gefahr einer falschen, gefährlichen Investition. Nürnberg bleibt die Stadt der immanenten Widersprüche, die Stadt der alten Reichsherrlichkeit und der Parteitage, die Stadt des Verdrängens und die der Lernprozesse, die Stadt der "Nürnberger Gesetze" und mit dem "Stürmer" schon frühzeitig ein Zentrum nationalsozialistischen Judenhasses. Dagegen stehen die Nürnberger Prozesse, die gleich 1945 einsetzten und weltweit den Beginn der Aufarbeitung der Vergangenheit markieren. Mit den Prozessen gegen die Verbrechen der Menschlichkeit entwickelte sich in Nürnberg zugleich eine Strafnorm gegen zukünftige Kriegsverbrechen. In Nürnberg gibt es immer nur beides.

Verwandte Themen


17 Kommentare