"Housing first": Bündnis will neues Hilfsmodell für Obdachlose

25.10.2019, 05:56 Uhr
Die meisten Konzepte sehen vor, dass Obdachlose zunächst nachweisen müssen, dass sie in einer eigenen Wohnung leben können. "Housing first" kehrt den Ansatz um. Das Leben in den eigenen vier Wänden soll Betroffenen helfen, Fuß zu fassen.

© Foto: Andreas Gebert/dpa Die meisten Konzepte sehen vor, dass Obdachlose zunächst nachweisen müssen, dass sie in einer eigenen Wohnung leben können. "Housing first" kehrt den Ansatz um. Das Leben in den eigenen vier Wänden soll Betroffenen helfen, Fuß zu fassen.

"Housing first" bedeutet, Wohnraum bedingungslos zur Verfügung zu stellen mit der Option, Hilfsangebote bei Bedarf in Anspruch zu nehmen. Das Konzept beruht auf der Annahme, dass eine obdachlose Person oder Familie als Erstes eine Unterkunft braucht, um sich zu stabilisieren. Erst dann können sie andere Probleme angehen. In Kooperation mit dem Verein Hängematte diskutierte das Netzwerk jetzt mit Experten aus Politik, Verwaltung, Wohnungsbau und sozialen Organisationen darüber, ob "Housing first" ein Konzept für Nürnberg sein könnte. Fazit: Es könnte.


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Der Ansatz unterscheidet sich grundsätzlich von herkömmlichen Modellen der Wohnungslosenhilfe, bei denen Obdachlose zunächst nachweisen müssen, überhaupt "wohnfähig" zu sein. Hier sollen zunächst die Ursachen, die zur Wohnungslosigkeit geführt haben, beseitigt werden, ehe in Erwägung gezogen wird, Wohnraum zu vermitteln.

Dieser kräftezehrende Weg kann sich über Jahre hinziehen. Viele landen bald erneut auf der Straße, sei es, weil sie Auflagen nicht erfüllen können oder es keine Wohnung auf dem freien Markt gibt – ein Teufelskreis.

Adresse gibt keinen Hinweis auf die Vergangenheit

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Beim "Housing first"-Modell, das der Psychologe Dr. Sam Tsemberis Ende der 1990er Jahre in den USA entwickelt hat, wird Betroffenen nicht unterstellt, dass sie das Wohnen erst (wieder) lernen müssen. Da es sich um normale Mietwohnungen handelt, wird eine Stigmatisierung vermieden. Die Adresse gibt keinen Hinweis auf die Vergangenheit in Obdachlosigkeit, wie es bei Wohnheimen der Fall ist.

Max Hopperdietzel war zunächst äußerst skeptisch, als er von dem Ansatz hörte. "Aber dann habe ich mir das angeschaut und festgestellt: Das scheint zu funktionieren", sagt der Leiter für berufliche Integration bei der Drogenhilfe Mudra. Studien aus den USA und Europa belegen, dass die Zahl der auf der Straße Lebenden in Gebieten, in denen "Housing first" angewendet wird, um bis zu 30 Prozent sinkt. 

 

 

 

 

Gute Prognosen

Der Anteil von Langzeitwohnungslosen mit komplexen sozialen und gesundheitlichen Problemen, die ihre Wohnung in "Housing first"-Projekten langfristig erhalten konnten, liegt je nach Studie zwischen 78 und 90 Prozent. Selbst Betroffene mit den schlechtesten Integrationsprognosen können oft wohnen bleiben, wenn ergänzende persönliche Hilfen auf freiwilliger Basis zur Verfügung stehen.


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"Housing first" soll bestehende Konzepte in seinen unterschiedlichen Formen ergänzen. Die gemeinnützige Organisation fitfyfity aus Düsseldorf etwa versucht, Gelder über den Verkauf von Kunst zu generieren. Das Kieler Stiftungsprojekt "Hempels hilft wohnen" hat ein Mehrfamilienhaus gekauft, in dem vormals obdach- und wohnungslose Menschen wohnen.

"Im Idealfall werden die Wohnungen von den Wohnungsbaugesellschaften von Anfang an mit eingeplant", sagt Ilse Weiß vom Straßenkreuzer, die trotz des Wohnungsmangels positiv nach vorn blickt. Ein gutes Beispiel sei Finnland, das einzige Land in der EU, das die Obdachlosenzahl verringern konnte. Dort sehen Neubauten von vornherein Wohnungen für Obdachlose vor.

Finanzielle Vorteile

Sarah von Trott vom "Projekt Zuhause" aus Gießen berichtet, dass einige Obdachlose dank einer eigenen Wohnung wieder Arbeit gefunden hätten. "Housing first" bringe auch finanzielle Vorteile, wie Reiner Braungard am Beispiel des Hempels-Hauses in Kiel belegt. Allein ein Bett in einer Notpension mit bis zu vier Personen im Zimmer koste im Schnitt 350 Euro im Monat – hinzu kommen Kosten für Essen und Betreuung. Eine kleine Wohnung in Kiel komme dagegen mit der Hälfte des Gesamtaufwands aus.

In Nürnberg finden sich bereits Ansätze von "Housing first light", etwa über städtische Unterkünfte für arme Familien. Uwe Kartmann vom Verein Hängematte ist überrascht, wie gut sich viele Drogenabhängige im betreuten Wohnen entwickelten. Norbert Kays, Suchtbeauftragter der Stadt, erinnert an die Sozialsiedlung Schafhof, die Ende der 1990er Jahre problemlos aufgelöst worden sei. Über 100 Menschen wurden damals dezentral im Stadtgebiet untergebracht. "Zu 98 Prozent hat das reibungslos geklappt", sagt Kays. Die Familien seien heute ganz normale Mieter wie alle anderen auch.

Die Teilnehmer des Fachgesprächs sind überzeugt, dass "Housing first" auch ein Modell für Nürnberg sei. Nun sollen Gespräche mit Politikern, Vermietern und potenziellen Geldgebern folgen.

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