Stadtmission warnt: Benachteiligte Kinder werden abgehängt

10.4.2021, 06:00 Uhr
Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien haben es gerade in der Pandemie noch schwerer als andere.

Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien haben es gerade in der Pandemie noch schwerer als andere.

"Die Hausaufgaben sind leichter zu lösen, wenn ich in die Schule gehe", sagt der neunjährige Daniel, der mit seiner Familie in einem großen Mietkomplex am Kirchenweg in Nürnberg wohnt. Normalerweise kommt er regelmäßig in die Spiel- und Lernstube Lobsinger der Stadtmission, stärkt sich beim gemeinsamen Mittagessen, löst seine Hausaufgaben, spielt Theater, knobelt oder trifft sich hier mit seinen Freunden zum Basketballspielen.

Die Einrichtung ist zwar - andere als viele sonst - nicht ganz geschlossen, der Betrieb aber doch massiv eingeschränkt. Über Angebote am Fenster und Einzelbetreuung versuchen Haupt- und Ehrenamtliche die Kinder und Jugendlichen "aufzufangen", soweit irgend möglich. Für Daniel bedeutet das trotzdem, dass er seit Monaten wieder größtenteils allein durch den Tag kommen muss. Unterricht im Klassenzimmer erlebte er vor Ostern nur für kurze Zeit. "Wozu soll ich denn überhaupt noch aufstehen, wenn wegen Corona keine Schule ist und es verboten ist, Freunde zu treffen?" meinte er kürzlich. Von den Lehrern habe er nicht mal eine Rückmeldung auf die gemachten Hausaufgaben erhalten. Und nicht nur Schulstoff ging Daniel immer mehr verloren. Es bröckelten auch die Grundlagen, um überhaupt erfolgreich lernen zu können.

"Schon nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 konnten wir sehen, wie die schulischen Leistungen der Kinder stark nachgelassen hatten. Manche taten sich schwer damit, wieder in der Gruppe zu sein, länger still zu sitzen, sich zu konzentrieren. Die weggefallene Struktur im Alltag hat bei den Kindern ein Riesenchaos im Kopf verursacht", stellt Leonie Lawen, Teamleiterin in der Spiel- und Lernstube, fest. Bis Weihnachten sei vieles aufgeholt worden.

Inzwischen aber sei Daniel im Distanzunterricht teilweise buchstäblich "vom Schirm verschwunden". Er schwänzte häufiger den Onlineunterricht, bis den Betreuerinnen in der Spiel- und Lernstube auffiel, was er bereits alles verpasst hatte. Daniel hat Angst vorm Distanzunterricht: "Wenn ich das alles nicht verstehe, kann mir das niemand richtig erklären. Ich schaff' das dann nicht."

Und er ist alles andere als ein Einzelfall: "Kinder brauchen nicht nur Wissen und Tablets, sondern Menschen, die sie begleiten, motivieren und an ihren Auf und Abs Anteil nehmen", sagt Alexandra Frittrang, Leiterin der Einrichtungen und Angebote von "Chancen für junge Menschen". Das alles sei in den vergangenen Monaten zu oft auf der Strecke geblieben. Und die Frage, wie die Jüngsten durch die Krise kommen, sei immer noch mehr Glücks- als politische Chefsache: Abhängig vom Engagement der Lehrkräfte, von Familienkonstellationen wie auch den Ressourcen der Kinder selbst: Ausreichend Deutschkenntnisse, Rückzugsräume oder eine stabile Internetverbindung zuhause – viele hatten das nicht und haben entsprechend den Anschluss verloren.

Statt Unterstützung erfuhren viele Familien obendrein Druck: "An die Kinder und Eltern wurden extrem hohe Erwartungen gestellt, manchmal ohne Rücksicht auf Sprachbarrieren", berichtet nicht nur Erzieherin Melanie Monticchio aus dem Diana-Hort der Stadtmission in Gibitzenhof. Zudem machten Existenzängste in den Familien, der fehlende Kontakt zu Gleichaltrigen oder individuelle Lern- und Entwicklungsstörungen vielen Kindern und Jugendlichen zu schaffen.

So zeigte sich in Studien, etwa vom Deutschen Jugendinstitut (DJI), dass psychische Auffälligkeiten wie Stress und Depressionen bereits im Sommer 2020 bei Kindern und Jugendlichen von 18 auf 31 Prozent gestiegen waren. Fast jedes zweite Kind aus belasteten, armen Familien habe Zukunftsängste, bilanzierte der Deutsche Kinderschutzbund im März. Für Herbert Biebl von den Schulförderkursen der Stadtmission äußert sich das so: "Meine Schüler sind einfach nur müde. Sie können sich kaum konzentrieren oder sie weichen beim Videocall aus, um ihre Ruhe zu haben."

"Dieses Dilemma wird nicht überwunden sein, wenn alle Kinder wieder normal Schule und Jugendfreizeiteinrichtungen besuchen können. Gerade jene Kinder, die schon immer strukturell benachteiligt sind, werden lange mit den Nebenwirkungen der Pandemie zu kämpfen haben", fürchtet Stadtmissions-Vorstand Matthias Ewelt. "Für sie und ihre Familien sehen wir uns auch als Lobby." Mit den Arbeitslosenzahlen steige auch die Zahl armer Familien und Kinder weiter. Doch selbst im zweiten Jahr der Pandemie gehe es beim Thema Schule fast ausschließlich um ein Entweder-Oder, ein Auf oder Zu. Maßgeblich müsse aber sein, Wege zu finden, um die Schulen unter allen Umständen für die Kinder offenzuhalten.

Was den Jungen und Mädchen helfe, seien persönliche Kontakte und individuelle, niederschwellige Förderung in geschütztem Rahmen. Im Programm "Chancen für junge Menschen" von der Stadtmission Nürnberg versuchen Pädagogen genau das: Zum Beispiel mit dem kostenlosen Nachhilfeprogramm "1000+1 Stunde" oder den Schulförderkursen für Abschlussschüler in kleinen, festen Gruppen – notfalls auch digital. Durch regelmäßige Telefonate mit Kindern und Eltern oder Einzel-Gesprächs- und Kreativangeboten an der frischen Luft.

Oder die Pädagogen schnüren für ihre Kinder und Jugendlichen Essenspakete "to go", weil das Geld in den Familien kaum mehr für drei Mahlzeiten am Tag ausreicht. Es sind viele kleine Bausteine, die garantieren, dass die Kinder auch im Lockdown angebunden bleiben an die Hilfen der Stadtmission. Mindestens ein Fünftel der Chancen-Angebote für benachteiligte Kinder und Jugendliche lassen sich nur durch Spenden finanzieren; benötigt werden derzeit rund 200000 Euro pro Jahr. Ewelt hofft denn auch auf private Unterstützung, um möglichst viele Kinder und Jugendliche fördern zu können.

Spendenkonto: Stadtmission Nürnberg e.V. IBAN: DE71 5206 0410 1002 5075 01; Stichwort: Chancen für junge Menschen.

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