Zwischen Glück und Trauer: Ein Kinderarzt erzählt

20.6.2020, 12:42 Uhr
Rund 5000 Neugeborene versorgt das Klinikum Nürnberg pro Jahr. Von 400 Gramm bis zu fünfeinhalb Kilo Geburtsgewicht ist alles dabei. 

© Armin Weigel, NN Rund 5000 Neugeborene versorgt das Klinikum Nürnberg pro Jahr. Von 400 Gramm bis zu fünfeinhalb Kilo Geburtsgewicht ist alles dabei. 

Herr Prof. Fusch, wie viele Neugeborene betreuen Sie jedes Jahr im Südklinikum?

Im Perinatalzentrum selbst haben wir 3400 Geburten im Jahr. Weil wir auch Schwangere aus den Außenstellen Neumarkt und Lauf mitbetreuen, sind es rund 5000 Kinder, die wir versorgen. Das reicht vom kleinen Frühgeborenen mit 400 Gramm bis zum großen Neugeborenen mit fünfeinhalb Kilogramm. Den meisten kann gut geholfen werden.

Aber leider nicht allen.

Es gibt Komplikationen, die vorhersehbar sind, einige sind das nicht. Wie viele Kinder behindert sind, ist schwer zu sagen, weil wir nicht von allen erfahren, wie es ihnen langfristig nach der Behandlung bei uns geht. Weniger als fünf Prozent der Neugeborenen, die bei uns stationär behandelt werden, müssen vermutlich mit einem neurologischen Problem leben.

Zwischen Glück und Trauer: Ein Kinderarzt erzählt

© Foto: Stefan Hippel

Ein krankes Kind, oder eines, das nicht überlebt: für Eltern ein Alptraum. Wie reagieren Sie?

Wenn es in der Schwangerschaft Probleme gibt, führen wir bereits vor der Geburt 20 Gespräche. Wir als Neonatologen sind gefragt, wenn es um Risiken und Therapien geht. Das ist nicht mit nur einem Gespräch getan. Das braucht viel Zeit.

Was wünschen sich Eltern von den Ärztinnen und Ärzten?

Das reicht von der Aufforderung "Machen Sie bitte alles, egal was!" bis hin zu dem Wunsch, dass gar nichts gemacht wird.

Und daran halten Sie sich?

Es gibt Reifegrade bei Frühgeborenen, da hat man keine Wahl. Die Kinder sind lebensfähig und man wird ihnen immer helfen. Aber es gibt Grenzbereiche, wenn ein Kind schon in der 23 Schwangerschaftswoche kommt, da richten wir uns nach dem Elternwillen.

Sprechen denn ausschließlich Mediziner mit den Eltern?

Das hängt vom Grad der medizinischen Probleme und vom Risiko ab. Idealerweise sind Doktor und Schwester dabei, oder zusätzlich der Kinderchirurg. Danach ist auch die Bettschwester oder die Stationsleitung präsent. So ein Gespräch ist grundsätzlich multiprofessionell und interdisziplinär.


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Kann ein dramatischer Verlauf nicht auch Vorwürfe und Anklagen auslösen?

Wenn die sechste Schwangerschaft schwierig ist und fünf vorherige Versuche nicht geklappt haben, ist das etwas ganz anderes als wenn es die erste Schwangerschaft einer jungen Frau ist. Dann haben wir natürlich auch Frauen mit psychiatrischen Vorerkrankungen. Wir müssen das wissen, dann können wir uns gut darauf einstellen. Manchmal wird allerdings ein Schuldiger gesucht. Die Zahl der juristischen Klagen hat leicht zugenommen, aber auf niedrigem Niveau.

Das Gros der Familien kann Krankheit oder Tod eines Kindes akzeptieren?

Wir gehen mit ihnen ein Stück Lebensweg gemeinsamen, im Einzelfall bleiben sie ja 60, 80, manchmal sogar mehr als 100 Tage bei uns. Man kommt sich da sehr nahe. Manche weinen, wenn ihre Kinder dann endlich entlassen werden können. Die meisten kommen mit ihrem Schicksal recht gut zurecht, haben ein Netz, Freunde und Familie. Auch wir lassen keinen alleine, wir informieren, fragen nach, welche Hilfe gebraucht wird. Neben den medizinischen Fachleuten haben wir den psychosozialen Dienst im Haus, der in der Regel dazukommt.

Wie gewinnt man das Vertrauen verzweifelter Eltern?

Mit Gesprächen. Aber es gibt schicksalhafte Verläufe, auch bei sorgfältigstem, sauberstem Arbeiten. Darüber klären wir umfassend auf. Das geht nicht mal eben so, das verlangt viel Zeit. Ganz wichtig: Wir behalten nichts für uns.

Diese Strategie führt auch immer zum Ziel?

Die meisten Väter und Mütter verstehen das. Manche sind aber auch am Boden zerstört. Um hier richtig zu reagieren, braucht es viel Erfahrung. Diesen Dialog führen deshalb nur erfahrene Oberärzte, manchmal auch ich selbst. Und natürlich versuchen wir auch Hoffnung zu wecken.

Ist das dann die Hoffnung auf ein Wunder? Auf Heilung?

Wenn Komplikationen bei einem Kind auftreten, ist das Leben ja nicht vorbei. Vielleicht bleibt etwas zurück? Vielleicht bildet es sich ganz zurück? Das muss sich zeigen, aber man muss lernen, das im Lauf der Zeit zu integrieren.


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Verweigern sich Eltern manchmal der furchtbaren Realität?

Wenn wir schlechte Nachrichten haben, gibt es tatsächlich Menschen, die das zunächst nicht wahrhaben wollen. Manche sind vorwurfsvoll, manche müssen etwas loswerden. Das kriegen wir dann teilweise ab. Fälle, bei denen es überhaupt keine Vertrauensbasis gab, kann ich bei den vielen tausend Kindern, die ich behandelt habe, an den Fingern einer Hand abzählen.

Wo stecken Sie und Ihr Team deprimierende Ereignisse hin?

Wir sprechen miteinander, auch mal eine Stunde lang – obwohl das in den Fallpauschalen nicht vorgesehen ist und deshalb nicht bezahlt wird. Es wäre schlimm, alles in sich reinfressen zu müssen. Ich selbst (er schweigt lange), ich sag's mal so: Manchmal setzt man sich daheim in eine Ecke und weint, weil man einen Kampf verloren hat. Mir hilft das. Anders betrachtet: Die Kinderheilkunde hat doch, vielleicht sogar überwiegend, sehr schöne Seiten. Ich nenne sie tatsächlich die heitere Seite der Medizin. Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht ganz dunkle Stunden hätten.

Sie praktizieren Hochleistungsmedizin. Muss dann auch das Kind perfekt sein, das da geboren wird? Darf da aus Elternsicht überhaupt noch etwas schiefgehen?

Die Sicht, dass das nicht sein darf, hat etwas zugenommen. Eltern haben sich perfekt vorbereitet, akribisch Vorsorge gemacht, und fragen bei Komplikationen manchmal: Wer ist daran schuld? Wer hat etwas falsch gemacht? Wir haben durch das Internet viel Halb- oder sogar gefährliches Nicht-Wissen, das Eltern verunsichert. Leider erleben wir auch eine Abwertung von Expertise, mehr als früher.


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Eine womöglich rhetorische Frage zum Schluss: Wenn Sie noch einmal 25 wären, würden Sie die Kinderheilkunde noch einmal wählen?

Total! Nichts anderes! Allenfalls Astronaut ginge vielleicht noch (lacht). Ich habe als Kind tatsächlich mal Wernher von Braun angeschrieben und ihn gefragt, wie ich denn Raumfahrer werden könnte. Er hat mir Informationsmaterial geschickt. Aber am Ende wurde es zum Glück doch die Medizin.


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