Die Entfremdung der Fans vom Profifußball: Auf Wiedersehen?

3.2.2021, 21:10 Uhr

Leere Ränge sind auch im Max-Morlock-Stadion längst wieder ein vertrautes Bild. Doch wer wird wiederkommen, wenn die Corona-Krise irgendwann vorbei ist? © Sportfoto Zink / Daniel Marr

Es sind bizarre Bilder, die das Magazin 11 Freunde für seine Jahres-Chronik 2020 zusammengetragen hat. Momentaufnahmen einer fremd anmutenden Fußballwelt, die man noch vor einem Jahr für surreale Szenen einer gruseligen Dystopie gehalten hätte. Wenn die Profis des FC Porto bei ihrer Meisterfeier auf dem Rasen hinter Stehpulten posieren, Bielefelder Spieler die Schale des Zweitliga-Champions einer verwaisten Tribüne entgegenrecken oder man bei Juventus Turin in einem leeren Stadion betont ausgelassen den neunten Titel in Folge zelebriert, verkommt die Jubelpose zur Karikatur. Es ist der krampfhafte Versuch, eine Normalität zu suggerieren, die so längst nicht mehr existiert. Mit dem Verlust der Fans hat das Coronavirus den Profifußball seiner Seele beraubt. Und immer mehr Menschen scheinen sich mit einem Leben ohne ihn arrangieren zu können.


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"Das Interesse nimmt ab. Das zeigen mir Gespräche mit Fans, Mitgliedern oder Geschäftspartnern. Menschen, für die das vorher undenkbar gewesen wäre, kommen plötzlich auch mal ein Wochenende ohne Fußball aus", berichtete kürzlich Claus Vogt, Präsident des VfB Stuttgart. Seit Monaten habe der Fußball "das, was ihn ausmacht, verloren: die Emotionalität". Die Corona-Krise sieht Vogt aber keineswegs als einzige Ursache dieser schleichenden Entfremdung, sondern eher als "Katalysator".

Auch beim 1. FC Nürnberg ist der Trend unübersehbar. Als die Politik angesichts sinkender Infektionszahlen im Sommer kurzzeitig eine Teilöffnung der Stadien beschloss, hielt sich der Andrang in Grenzen. Knapp 10 000 Zuschauer wären in den Heimspielen gegen Sandhausen und Darmstadt erlaubt gewesen, es kamen gerade mal 6505 und 6772. Auch die Reaktionen nach dem wieder mal verlorenen Derby gegen Fürth wirkten im Vergleich zu früher erstaunlich moderat – was einem gewissen Gewöhnungseffekt geschuldet sein mag, aber eben auch als Indiz für eine wachsende Gleichgültigkeit interpretiert werden könnte.

"Wenn man mit Fans ins Gespräch kommt, verdichten sich die Hinweise, dass tatsächlich so etwas wie eine Entemotionalisierung des Fußballs stattgefunden hat", sagt Professor Harald Lange von der Universität Würzburg und zeichnet ein düsteres Bild: "Die Menschen wenden sich in Scharen ab." Für den Sportsoziologen und Fanforscher kommt diese Entwicklung wenig überraschend. Immerhin werde gerade "sehr eindrucksvoll dokumentiert, dass Profifußball auch ohne Fans auskommen kann beziehungsweise er sie nur indirekt braucht, indem sie den Fernseher einschalten und Quote garantieren". Neben dieser "symbolischen Ebene" sieht Lange eine "tiefergehende Ebene", die durch Corona noch stärker zum Vorschein kommt und offenbart, "wie sehr sich die Welt des Profifußballs, die man durchaus als Blase bezeichnen könnte, von der Basis entfernt hat".



Korruptionsskandale in FIFA und UEFA, gekaufte "Sommermärchen" und dubiose Winter-Weltmeisterschaften, Kommerzialisierung und Eventisierung, Salami-Spieltage, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Chancengleichheit als nur noch theoretische Idee – "all das trägt dazu bei, dass die Distanz immer größer wird und die Identifikation verloren geht", sagt Lange und verweist auf die Proteste, mit denen die aktive Fanszene schon seit Jahren ihre Sorgen und Nöte artikuliert. Notfalls auch mal etwas derber.

Als dann die Pandemie über den Planeten hereinbrach, sei die DFL massiven Fehleinschätzungen unterlegen und habe sich "völlig naiv" verhalten. Gleiches gelte für die Politik, etwa als Ministerpräsident Markus Söder und sein Amtskollege aus NRW, Armin Laschet, mit populistischen Plädoyers für eine rasche Wiederaufnahme des Spielbetriebs Sympathiepunkte sammeln wollten. "Man dachte, Geisterspiele wären doch eine tolle Sache, da können dann alle im Lockdown am Samstag wenigstens schön Fußball gucken."



Allerdings war zu diesem Zeitpunkt Volkes Stimmung längst gekippt, die Sonderrolle des Fußballs ins Visier nicht nur passionierter Sportmuffel geraten. Man diskutierte plötzlich über Moral, Solidarität und gesellschaftliche Verantwortung und sorgte sich, das von der DFL ausgetüftelte Hygienekonzept mit seinen enormen Testkapazitäten könnte zu Lasten der Allgemeinheit gehen.

Die organisierten Fanbündnisse positionierten sich klar gegen Geisterspiele, die Teilöffnung der Stadien im Sommer wurde von den Ultras konsequent boykottiert, getreu dem Motto: Alle oder keiner. "Das ist nach hinten losgegangen", sagt Lange, der Fußball habe sich in der Krise "eine Negativimage-Debatte eingefangen".



Als der DFL und ihren Vereinen der fehlende Rückhalt bewusst wurde, trat Geschäftsführer Christian Seifert zum verbalen Canossa-Gang an und schien plötzlich das ganze System in Frage zu stellen. Angesichts der "Missgunst und dem fehlenden Goodwill" seiner Branche gegenüber müsse man sich auch fragen, "was hat der Fußball in der Vergangenheit falsch gemacht?"

Offenbar eine ganze Menge. Ob derlei Selbstreflektionen aber nicht nur strategische Lippenbekenntnisse sind, daran hat Lange so seine Zweifel, trotz einer eilig installierten Taskforce "Zukunft Profifußball". Für den 52-Jährigen ist die neue Demut vor allem eine pragmatische Reaktion auf drohendes Unheil. "Man hat gemerkt, dass die Akzeptanz in der breiten Gesellschaft wegzubrechen droht", erklärt Lange, das wiederum hätte Auswirkungen auf TV-Gelder und Sponsoren, "die als Gegenleistung eine Identifikationsfläche haben wollen. Das System wird deutlich an Zuspruch verlieren und damit an Werbekraft." Es geht also, profan gesagt, wieder mal nur ums Geld. Ob dies tatsächlich "zu einer Neujustierung führt und sich der Profifußball in den Grundkonstanten reformiert", sei schwierig zu prognostizieren.



Gleiches gilt für die Frage, ob die Zuschauer wiederkommen werden. Der Sportsoziologe Gunter A. Pilz bewertete die geringe Resonanz während der kurzen Öffnungsphase eher als Folge der nervigen Rahmenbedingungen mit Hygiene- und Abstandsregeln. "Die Attraktion am Stadionbesuch ist die Anwesenheit in der Masse, das Mitfeiern und sich mitreißen lassen. Das ist weg und von daher ist es für die Leute kaum interessant", befand der Fanforscher im mdr: "Sobald die Auflagen nicht mehr nötig sind und es wieder Bier und Bratwurst gibt, werden die Stadien wieder voll sein. Ich würde sogar meine Haut verwetten, dass Fans aller Sportarten ihren Vereinen erst recht die Bude einrennen." Lange ist da etwas skeptischer. Zwar spräche vieles dafür, "dass sich das irgendwann wieder normalisiert, aber die Frage ist, auf welchem Niveau?" Wenn die Menschen ins Stadion zurückkehren, liege das vor allem "an den sehr positiven, biografisch gewachsenen Erinnerungen an dieses Spektakel, die wir alle haben. Ohne sie wäre jetzt Schluss mit dem Zauber."

Lange mag aber auch nicht ausschließen, "dass ein Bruch da ist und sich junge Menschen perspektivisch für andere Sachen interessieren". Damit meint er nicht die treuen Fans, "die mit ihrem Verein mitleiden und eine Krise durchstehen". Doch gebe es eben auch jene Spezies, die dem DFB als Idealbild gilt. "Kommt ins Stadion, kauft eine Wurst, gebt etwas Geld am Merchandising-Stand aus und haut wieder ab, ohne eure Meinung zu sagen", skizziert es Lange bewusst provokant. Auf die Spitze getrieben wurde dieses Konzept im vielbelächelten "Fanclub Nationalmannschaft", einer pseudo-elitären Community schwarz-rot-gold-bemalter "Schland"-Supporter sponsored by einer weltbekannten Koffeinbrause.



Genau solche Eventfans sind laut Lange "die ersten, die künftig lieber ins Kino oder Theater gehen, um sich unterhalten zu lassen". Und auch mancher "neutrale" Zuschauer werde überlegen, ob er "aus Opposition zum Gehabe im Profifußball" künftig nicht vielleicht lieber andere, bodenständigere Sportarten wie den Handball unterstützen möchte.

Ohne Fans ist Fußball nichts?

Nicht alle Protagonisten aus dem Paralleluniversum Profifußball zeigen Verständnis für die Befindlichkeiten der Kurve. Als der Spielerberater Jörg Neblung im Fernsehen ein Transparent mit der Aufschrift "Ohne Fans ist Fußball nichts" entdeckt hatte, konterte er via Twitter trotzig, Fußball ohne Fans sei "Fußball in Reinform". "Weltfremd" nennt Lange solche Thesen, schließlich sei der Fußball schon immer ein soziales Ereignis gewesen, ob nun im großen oder kleinen Kreis. Oder wie es der englische Autor Rogan Taylor einst treffend formulierte: "Was wäre Fußball ohne Fans? Nur ein Kick von 22 Kurzbehosten im Park!"