Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit im Ausnahmezustand

1.5.2020, 05:58 Uhr
„Der Krankenstand ist historisch tief, die Motivation historisch hoch“, sagt Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit.

© Daniel Karmann, dpa „Der Krankenstand ist historisch tief, die Motivation historisch hoch“, sagt Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit.

Ein Personaler hat es gegenüber der Bundesagentur neulich recht hemdsärmelig ausgedrückt: „Wir haben euch gleich alle über den Zaun geworfen.“ Alle – damit meinte er die Mitarbeiter, bei denen sich die Firmenspitze vorstellen kann, dass sie in absehbarer Zeit in Kurzarbeit müssen. Dass sie vielleicht in Kurzarbeit müssen. Denn die Personalabteilungen melden die Namen der Beschäftigten lieber schon vorsorglich bei der Arbeitsagentur. Man weiß ja nie, wohin diese Krise noch führen wird.

Detlef Scheele erzählt diese Episode bei der monatlichen Pressekonferenz der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg, um eine Zahl begreifbar zu machen, die auch ihm und seinen Kollegen im Vorstand „den Atem stocken“ ließ: Für zehn Millionen Menschen haben Deutschlands Betriebe Kurzarbeit angezeigt. Damit wäre jeder dritte sozialversicherungspflichtig beschäftigte Arbeitnehmer im Land betroffen. Wäre. Denn noch ist eben nicht klar, für wie viele Mitarbeiter die Firmen dann auch tatsächlich Kurzarbeit anordnen.

Dann stünden Menschen ohne Geld da

Corona hat die Bundesagentur für Arbeit zwar nicht von heute auf morgen, aber doch in enormer Geschwindigkeit zur wohl wichtigsten deutschen Behörde jenseits des Gesundheitswesens gemacht. Das ist umso erstaunlicher, als den Verantwortlichen der Bundesagentur über Jahre der Glanz immer neuer Arbeitsmarktrekorde, immer neuer Niedrigstände bei der Arbeitslosigkeit, ins Gesicht schien.

Nun hängen plötzlich die Existenzen von Millionen Menschen davon ab, ob die knapp 100.000 Mitarbeiter ihren Job unter Höchstbelastung machen. Wenn ihnen das nicht gelingt, wenn die IT- und Telefonsysteme unter dem Druck von in der Spitze 220 Anrufen pro Sekunde in die Knie gehen, wenn die Arbeitsagenturen unter dem Ansturm der Anträge auf Kurzarbeitergeld zusammenbrechen – dann stünden Menschen in ungeahnter Zahl ohne Geld da.


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Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Bundesagentur die Belastungsprobe zu bestehen scheint. Ja, es gibt die Berichte von Firmenverantwortlichen, die in der Warteschleife festhängen. Doch die Auszahlung von Kurzarbeitergeld dauert kaum länger als in der Zeit vor der Krise, als nicht 751.000 Betriebe wie in den vergangenen Wochen, sondern gerade einmal 1300 pro Monat Kurzarbeit anzeigten. „Die Bundesagentur funktioniert“, sagt Scheele.

Sie funktioniert, weil die Behörde schnell in den Krisenmodus geschaltet hat: Die Arbeitsagenturen sind seit Mitte März geschlossen, die Mitarbeiter (Scheele: „Der Krankenstand ist historisch tief, die Motivation historisch hoch“) wurden umgeschichtet: Statt 700 kümmern sich nun 9000 Beschäftigte um die Kurzarbeits-Anzeigen.

Mitarbeiter des Asyl-Bundesamts helfen

Verstärkt werden sie von 500 Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Das Krisenjahr 2015, es wiederholt sich also irgendwie doch – zumindest im Zusammenspiel der beiden Nürnberger Bundesbehörden und unter anderen Vorzeichen: Waren es vor fünf Jahren die Bundesagentur-Mitarbeiter, die dem Flüchtlingsamt halfen, sich gegen die Lawine von Asylanträgen zu stemmen, geht die Hilfe nun in die entgegengesetzte Richtung.

Es ist dem deutschen Sozialstaat zu verdanken, „einem der stärksten Sozialstaaten der Welt“ (Arbeitsminister Hubertus Heil), dass sich das Coronavirus vergleichsweise langsam durch den Arbeitsmarkt frisst. Zuerst kommt die Kurzarbeit, erst später Kündigungen und Insolvenzen. Zwar stieg die Zahl der Arbeitslosen mit 308.000 bereits jetzt so stark wie nie zuvor binnen eines Monats, doch die Dimension ist eine andere als etwa in den USA: 30 Millionen Menschen verloren dort im Zuge der Coronakrise ihre Jobs. Auf Deutschlands Einwohnerzahlen übertragen, käme dies einem Anstieg 7,5 Millionen in der Bundesrepublik gleich.

Dass es so weit nicht kommt, hat mit der sozialen Absicherung zu tun: Das Instrument Kurzarbeit ermöglicht es Unternehmen, Personalkosten einzusparen, ohne gleich jemandem kündigen zu müssen. So lässt sich ein ganzes Jahr überbrücken. Mit wie vielen Arbeitslosen Deutschland aus der Krise kommt, hängt nun entscheidend davon ab, wie lange die Corona-Einschränkungen bestehen bleiben.


Dass das Instrument Kurzarbeit seinen Preis hat, zeichnet sich bereits ab. In der Bundesagentur kursieren zwei Szenarien, wie teuer die Krise die Arbeitslosenversicherung kommen wird. Die hatte bis vor kurzem noch eine riesige Rücklage von 26 Milliarden Euro. Szenario eins sieht vor, dass die Zahl der Kurzarbeiter in der Spitze auf fünf Millionen ansteigt – die Rücklage würde gerade so reichen. Szenario zwei geht von acht Millionen Kurzarbeitern aus – damit stünde am Ende des Jahres ein Minus von vier bis fünf Milliarden Euro. Geld, das wohl erstmal der Bund zuschießen müsste. „Wir tendieren als Vorstand in Richtung des zweiten Szenarios“, sagt Scheele.

Wer an dem 63-Jährigen, der die größte Aufgabe seiner Vorstandschaft zu meistern hat, Zeichen des Verdrusses sucht, der sucht sie jedoch vergeblich. „Es gibt ein Leben nach der Krise“ sagt Scheele. Selbst aus der Zahl, die ihn den Atem stocken ließ, will er inzwischen etwas Positives herausgelesen haben: „Zehn Millionen Kurzarbeiter“, sagt Scheele, „das sind zehn Millionen Menschen, die ihren Arbeitsplatz nicht verlieren.“

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