Lehrer Bliss flieht aus der Enge der Gesellschaft

13.11.2008, 00:00 Uhr
Lehrer Bliss flieht aus der Enge der Gesellschaft

© Dittrich Verlag GmbH

Der Realismus, so Theodor Fontane in einem dem Roman vorangestellten Zitat, sei so alt wie die Kunst selbst, «ja, noch mehr: er ist die Kunst«. Das ist für die nun mit dem letzten Band vorliegende Tetralogie nur halb richtig; denn der Autor verfügt über ein weites und reiches Spektrum von Artikulationsweisen: Von analytischer Deskription bis zur barock-hektischen Wortmontage.

Schicksale von Menschen

In einer vieldimensionalen Textur werden die Schicksale von Menschen, die man aus den vorangegangenen Büchern zum großen Teil kennt, in ihrer weiteren Entwicklung eingefangen: Dramatisch und lyrisch, nostalgisch und kritisch, im Protokoll- und manchmal auch im Leitartikelton – insgesamt in ihren Höhen und Tiefen. Entworfen werden das Handlungspanorama und die Seelenlandschaft der 68er-Generation mit ihren Hoffnungen, Enttäuschungen, Selbsttäuschungen und weiterwirkenden Utopien.

Da ist als eine Hauptperson der «verhinderte« (aus politischen Gründen entlassene) Lehrer Viktor Bliss, der aus deutscher Enge und einer gescheiterten Ehe in den griechischen Süden geflohen ist und seit einem Waldbrand, trotz einer Reihe von Operationen, im Gesicht entstellt ist. Er erfährt schließlich die Liebe seiner aus den USA zurückgekehrten Enkelin Ann, die ihn als Vater «adoptiert« – und findet so nach vielen Enttäuschungen wieder zu einem glücklicheren Leben zurück.

Ann befreit Bliss vom «Kellerdasein« und erweist sich als Angehörige einer neuen Generation, die offen und ohne ideologische Scheuklappen in einer (auch durch die Vereinigung der beiden Deutschland) veränderten Welt selbstsicher zurecht kommt.

Abschluss des Kampfes

Der Sisyphos-Mythos, mit dem der Autor die Fülle realistischer Gestalten und Geschehnisse überhöht, wird auf der letzten Seite des Romans nochmals angesprochen: «Erloschen der wilde Berg / die Erde schweigt / geklärter Himmel / Die Sonne sinkt dahin / wie für immer // Ratlos die Söhne / ziehen die Stiefel aus / Die Tochter lächelt / zeigt in die blauende Nacht / Da strahlt im Orion / der Vater.« Wenn auch in vielem geheimnisvoll – das klingt nach einem in Mystik endenden Abschluss des Kampfes um eine bessere Gesellschaft.

Eine heiterere Deutung erfährt der Sisyphos-Topos durch den Journalisten Armin Kolenda, eine andere Hauptfigur der Romanfolge, in einem Bettgespräch, das er mit seiner Geliebten Lisa Esper führt; er preist sie als seinen «schönen, frühlingsgrünen Berg, voller Blumen und Düfte und Schmetterlingen«. Damit neigt sich eine Geschichte in der Geschichte, die geradezu atemberaubend zu lesen ist, einer versöhnlichen Lösung zu: Lisa hat ihre Tochter durch Mord verloren; der Mörder scheint der Gewerkschafter Hannes Sonnenfeld zu sein, der kurz darauf Selbstmord begeht und ihr in Liebesleidenschaft verbunden war. Wie nun der recherchierende Kolenda die Wahrheit herauszufinden sucht, die Abgründe der Tragödie einfühlend auslotet, die Heuchelei der Umwelt erfährt und der langsam aus tiefer Verstrickung sich lösenden Lisa nahe kommt – dieser Romanteil ist besonders meisterlich gestaltet.

Insgesamt steht er für die narrative Qualität des Autors, der, ein besonderer Aspekt seines Realismus, wirkliche Personen der Zeitgeschichte (wie etwa Robert Jungk und Horst-Eberhard Richter) sowie viele Lesefrüchte aus dem zeitgenössischen Schrifttum in seine Darstellung einbezieht.

Profunder Einblick

Der Versuch des Autors, über vier dicke Bände hinweg die Entwicklung der Bundesrepublik und DDR aus der Sicht dezidierter Linker wie die protestierender Abweichler aufzuzeigen – überreichlich auch deren Beziehungsprobleme –, verbunden mit einem profunden Einblick in die Gewerkschaftswirklichkeit, ist insgesamt gelungen.

Wenn Kritiker Schöfers Werk mit Uwe Johnsons «Jahrestage« verglichen, so ist dies angemessen: Wir verfügen nun über einen großen Zeitroman zur 68er-Bewegung, der freilich einer entschleunigten Leseanstrengung bedarf und hoffentlich lange auf der «Backlist« stehen wird.

Erasmus Schöfer: Winterdämmerung. Die Kinder des Sisyfos. Roman, Dittrich Verlag, Berlin, 623 Seiten, 24.80 Euro