Arbeitsende in Anderlecht: Die Gründe für das Weiler-Aus

19.9.2017, 15:02 Uhr
Die Champions League zum Abschied: René Weiler während der Pressekonferenz vor Anderlechts Gastspiel beim FC Bayern München.

Die Champions League zum Abschied: René Weiler während der Pressekonferenz vor Anderlechts Gastspiel beim FC Bayern München.

"René Weiler begreep het niet", so beginnt jetzt der Kommentar des Fußball-Experten Ludo Vandewalle im Nieuwsblad. Im Niederländischen klingt das immer ein bisschen lieblich, aber es ist eine sehr ernste Debatte, und was der Trainer Weiler angeblich nicht begreift, bekommt er noch einmal zum Nachlesen. Der RSC Anderlecht sei "kein FC Schaffhausen, kein FC Aarau, kein 1. FC Nürnberg", vielmehr ein Weltklub, in dessen Selbstverständnis "oppermacht en grandeur", also eine Vormachtstellung und die eigene Großartigkeit, fest verankert sind.

So weit, wie Fußball-Experte Vandewalle glaubt, ist der belgische Rekordmeister damit gar nicht vom 1.FC Nürnberg entfernt. Auch der Ex-Rekordmeister aus Franken lebt von seinem Selbstverständnis als immer irgendwie noch großer Club, und liest man jetzt belgische Zeitungen, fällt einem eines der letzten Treffen mit René Weiler ein, als er noch Nürnberg trainierte. "Allen Ernstes", sagte Weiler da, sei er von führenden Funktionsträgern gefragt worden, ob man im Relegations-Rückspiel gegen Eintracht Frankfurt entschlossen offensiv spielen wolle, richtig angreifen.

Weltfremd nannte Weiler diese Vorstellung, "absurd". Es ging damals, im Mai 2016, um den Aufstieg in die Bundesliga, der Club war mit René Weiler enorm gewachsen. Aber Frankfurt war die bessere Mannschaft, Weiler wollte die Mission pragmatisch angehen – und scheiterte, wenig später verließ er Nürnberg in der Befürchtung, der Spagat zwischen Anspruch und Möglichkeiten ließe sich auf Dauer nicht gemeinsam bewerkstelligen.

Das Angebot aus Belgien kam ihm gerade recht – aber 16 Monate später fühlt sich der Schweizer vermutlich stark an Nürnberg erinnert. Der Royal Sporting Club aus dem Brüsseler Vorort Anderlecht hat René Weiler mitten im nächsten Umbau des Teams beurlaubt. Nur Rang neun in der heimischen Jupiler League, sieben Spiele, neun Punkte – das reicht vordergründig natürlich für so einen Schritt, dahinter steckt aber mehr. In Belgien sehnt man sich nach dem verblassten Glanz aus Zeiten, als Anderlecht Europapokale gewann, ein dominanter Ballbesitzfußball ist das Ideal. "In den Köpfen der Fans sind diese Qualitäten immer noch der Grund, warum sie Anderlecht zu ihrem Lieblingsklub gemacht haben", heißt es in der Anklageschrift des Nieuwsblad.

Auf Augenhöhe mit Bayern und Paris?

In der Realität ist Belgiens Liga eines der Opfer des Verdrängungswettbewerbs, den die Champions League in Gang gesetzt hat. Eine kleine Minderheit von Fußball-Weltmarken dominiert den Kontinent, die Mehrheit wird abgehängt und muss das Beste daraus machen. René Weiler reizt das, er hat den RSC in seinem ersten Jahr mit Geduld, Kreativität und Pragmatismus zum ersehnten ersten Meistertitel seit 2014 und ins Viertelfinale der Europa League geführt – und damit auch dafür gesorgt, dass die Ansprüche die Möglichkeiten schnell wieder überholten. "Allen Ernstes", wie Weiler sagte, sei er gefragt worden, ob man nun in der Champions League gegen den FC Bayern und den mit katarischen Millionen alimentierten FC Paris Saint-Germain bestehen könne.

Man konnte nicht, 0:3 hieß es in der vergangenen Woche zu René Weilers persönlicher Champions-League-Premiere in München, es war ein seltsames Resultat – weil man es in Belgien ernüchternd und in München trotzdem irgendwie enttäuschend fand. Nur dreinull, auch das sagt viel über die Entwicklung dieses Spiels.

Fußball ist nicht sein Leben

"Man möchte Vergangenes wiedererleben, besser wäre es aber, die Neuzeit und Realität zu akzeptieren", das sagte Weiler als belgischer Meister im Gespräch mit dieser Zeitung, "unruhig und erwartungsfroh" nannte er die Atmosphäre in Brüssel, man ahnte, was er befürchtete – und wusste, dass Weiler in solchen Fragen kein Mann der Kompromisse ist. Er hat das oft genug gesagt: dass Fußball nicht sein Leben ist, dass er sich nicht vereinnahmen lassen mag, dass er sich die Freiheit erhalten will, seinen Weg zu gehen – vielleicht, wer weiß, weg vom Fußball, vielleicht sogar bald.

Das macht René Weiler zu einem für sein Umfeld schwierigen Trainer, der beides ist: ein Teamspieler, weil er es versteht, Menschen für seinen Weg zu begeistern, "sehr stark mit Emotionen", sagt er über seine Zeit in Nürnberg, habe er beim Club gearbeitet. Und in gewisser Weise ein Egoist, weil er mit einer relativen Unabhängigkeit von diesem manchmal überhitzten Ballbetrieb nicht nur kokettiert. Man kann sich lange mit René Weiler unterhalten, ohne über Fußball zu reden.

Weiler hat zwei Studiengänge abgeschlossen, mit der "Kommunikation bei Trainerentlassungen" hat er sich in einer Abschlussarbeit befasst – beurlaubt worden ist er jetzt zum ersten Mal, aber Trainer wird Weiler bleiben. Er ist erst 44 Jahre alt und hat in Schaffhausen, Aarau, Nürnberg und nun Brüssel nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht; gestern wähnte ihn die Branche schon auf dem Weg zum VfL Wolfsburg, wo zur selben Stunde Andries Jonker gefeuert worden war. Den Posten bekam Weilers Landsmann Martin Schmidt.

Dass sich der Familienvater Weiler jetzt eine Auszeit nimmt, darf man annehmen. Im Winter starb, nach langer Krankheit, sein Vater, ein pensionierter Kriminalbeamter der Kantonspolizei Zürich. Weiler hat darüber nie öffentlich gesprochen, aber privat einmal davon erzählt, wie ihn der Vater das fragte: Ob er sich es gut genug überlegt habe mit dem Trainer-Leben. Das hatte der Sohn, in allen Konsequenzen. Begriffen hat René Weiler längst vor allem das Wichtigste: Welche Freude, aber auch wie nebensächlich Fußball immer noch ist.

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