Fall 10 der Weihnachtsaktion

Alarmsignale: Wenn Kinder sich selbst verletzen

Wolfgang Heilig-Achneck

Lokalredaktion

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24.11.2021, 11:30 Uhr
Die Verlusterfahrung hat die Mädchen in eine längerdauernde Krise gestürzt. 

© inkje/photocase.de Die Verlusterfahrung hat die Mädchen in eine längerdauernde Krise gestürzt. 

Wenn sich schon Kinder absichtlich selbst verletzen, ist das bedrückend. Eher beiläufig und fast zufällig bemerkte Rosemarie D. (alle Namen geändert) vor gut einem Jahr, dass ihre Tochter Bianca heimlich diverse Tabletten auflöste und schluckte und sich mit unterschiedlichen Gegenständen die Haut aufritzte.

Der Schock war noch größer, als sie feststellen musste, dass auch die „kleinere“ Schwester Biancas Verhalten nachahmte. Dabei fehlen den beiden Mädchen weder Erfolgserlebnisse in der Schule, noch müssen sie sich – soweit erkennbar – in irgendeiner Weise gemobbt fühlen. Und das Verhältnis zur Mutter gilt auch als ungetrübt und herzlich. Schließlich scheint, wie Untersuchungen ergaben, auch Corona mit den lange fehlenden Sozialkontakten keine Rolle zu spielen.

Längst erhielten und erhalten die beiden Mädchen therapeutische Hilfe, mal in Kliniken, aber vor allem durch ambulante Betreuung. Von „Borderline-Störung“ ist in den Befunden zu lesen – und die ist offenkundig schwerer zu überwinden als gehofft. Erst kürzlich musste die Mutter eine der Töchter wieder in eine Notaufnahme bringen, um dort die Schnittwunden nähen zu lassen.

Unbeschwertes Zuhause

Nun ist die Mutter, Mitte 40, noch mehr besorgt und darum bemüht, ihren Kindern ein halbwegs unbeschwertes Zuhause zu bieten – soweit das mit den schmalen Jobcenter-Leistungen möglich ist. Nur eines kann sie nicht aus der Welt schaffen, was die psychischen Auffälligkeiten der Töchter erklären könnte – und was vor allem auch sie selbst umtreibt.

Nur dank eiserner Disziplin lässt sie sich Trauer und Schmerz über traumatische Verlusterfahrungen kaum anmerken: Vor sechs Jahren hatte, aus heiterem Himmel, ihr Mann und Vater der Kinder einen Herzinfarkt erlitten. Trotz rascher Wiederbelebungsversuche wurde er zum Schwerstpflegefall. „Die Ärzte sagten von Anfang an, dass sein Gehirn so geschädigt ist, dass praktisch keine Aussicht auf Besserung besteht. Aber ich wollte das nicht glauben und kämpfen“, sagt Rosemarie D.

Versorgung in Pflegezentrum

Zu Hause versorgt werden konnte er nicht, natürlich besuchten sie und die Töchter den Mann und Vater, so oft es nur ging – bis nach mehrjährigem Abschiednehmen die Entscheidung fiel, die lebenserhaltenden Geräte abzuschalten. Das alles hatte auch finanzielle Folgen: Die Familie konnte die ursprüngliche Wohnung nicht mehr halten, auch nach einem Umzug ließ sich bald nur mit knapper Not eine Räumungsklage abwenden. Und verschiedene Versuche, beruflich wieder Fuß zu fassen, scheiterten zuletzt vor allem daran, dass Rosemarie D. immer wieder kurzfristig gefordert war, sich um die Töchter zu kümmern.

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