Nürnberger Chef-Psychiater im Interview

Europäischer Tag gegen Depression: "Medikamente und Psychotherapie sind keine Gegensätze"

2.10.2021, 16:27 Uhr
Prof. Dr. Thomas Hillemacher, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg.

© Klinikum Nürnberg Prof. Dr. Thomas Hillemacher, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg.

Kaum ein Tag vergeht, der nicht irgendeinem Problem oder Thema gewidmet wäre. Da gibt es allerlei Kurioses, aber der Europäische Depressionstag lenkt den Blick auf sehr ernste Lebensfragen. Wie dringend ist es, Aufmerksamkeit zu schaffen für diese Krankheit?

Hillemacher: Es ist auf jeden Fall nötig und sinnvoll. Schon weil dieses psychische Leiden oft unerkannt bleibt und folglich auch nicht behandelt wird. Manche Forscher gehen davon aus, dass womöglich jeder zehnte Mensch im Laufe eines Jahres an einer Depression erkrankt. Selbst wenn es nur halb so viele sein sollten, wären das allein in Nürnberg immer noch 25.000 oder 30.000.

Das klingt erschreckend...

Hillemacher: Ich will das nicht dramatisieren und übertreiben: Nicht alle benötigen ärztliche Hilfe, manche können das gut mit sich selbst ausmachen oder bekommen Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld. Insgesamt kommt höchstens jeder fünfte Betroffene tatsächlich in Behandlung. Aber es geht schon darum, das Ausmaß der Probleme wahrzunehmen. Erster Ansprechpartner sollte immer der Hausarzt sein.

Aber sind die Allgemeinmediziner überhaupt in der Lage, Depressionen zutreffend zu erkennen?

Hillemacher: Grundsätzlich auf jeden Fall. Die meisten Hausärzte haben die Zusatzausbildung zur psychosomatischen Grundversorgung absolviert. Das ist eine gute Basis. Und Depressionen sind ja auch keine ausgefallenen Erkrankungen. Außerdem gibt es alle möglichen Beratungsdienste oder auch den schulpsychologischen Dienst. Auch sie tragen dazu bei, Erkrankungen zu erkennen, idealerweise ganz früh. Dennoch gibt es Gruppen, die tendenziell schwerer zu erreichen sind, zum Beispiel weil Sprachprobleme als Hürde wirken oder weil ein kultureller Hintergrund eine Rolle spielt, in dem Depressionen als Tabu gelten. Vor allem zur Verringerung der Suizide ist eine Enttabuisierung aber milieuübergreifend von zentraler Bedeutung.

Wie steht es um das Netz an Hilfen?

Hillemacher: Das Angebot an ersten Anlaufstellen ist im Prinzip gut, vor allem in den Städten. In ländlichen Regionen ist es schon schwieriger. Deshalb war es durchaus ein Meilenstein, dass es jetzt in ganz Bayern Krisendienste gibt – wie in Mittelfranken schon seit vielen Jahren. Nürnberg war eine der ersten Städte in Deutschland, in denen ein Bündnis gegen Depression gegründet wurde; gerade feiern wir das 20-jährige Bestehen. Wenn es nicht um Beratung, sondern um Therapie geht, sind die Plätze allerdings fast überall knapp, da müssen Betroffene leider schon mit Wartezeiten von mehreren Monaten rechnen.

Und in der Zwischenzeit verschärfen sich das Leiden und die möglichen Folgen…?

Hillemacher: In akuten Fällen besteht ja die Möglichkeit der Aufnahme in einer Klinik. Es kommt sehr auf den Einzelfall an. Auf der einen Seite gibt es Patienten, die sozial und auch beruflich gut eingebunden sind und – jedenfalls von außen gesehen – plötzlich und ohne äußere Ursache in eine Depression rutschen können. Auf der anderen Seite überschneiden sich Depressionen nicht selten mit Persönlichkeitsstörungen oder Suchterkrankungen.

Vor Corona Erkrankte hatten größte Probleme

Hat Corona, besser gesagt: haben die drastischen Kontaktbeschränkungen Menschen in die Depression getrieben, vielleicht gerade die Ältere, die besonders isoliert waren?

Hillemacher: Da gilt es genau hinzusehen und zu unterscheiden: Von den Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung fühlten sich viele Menschen besonders belastet. Aus ihrer Wahrnehmung hat es einen deutlichen Anstieg gegeben, das belegen inzwischen eine Reihe von Befragungen und Studien. In unserer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg haben sich aber nicht mehr Patienten mit einer Depression vorgestellt, die von den Corona-Umständen ausgelöst worden wäre. Überdeutlich ist allerdings, dass viele, die schon vorher durch eine Depression belastet waren, noch härter getroffen waren, weil das Hilfesystem für sie plötzlich nur noch sehr eingeschränkt erreichbar war. Ein dritter Aspekt ist die Frage nach einer möglichen Zunahme von Post-Covid-Problemen, etwa Schlafstörungen und Angstzuständen. Aber für verlässliche Aussagen ist es etwas zu früh.

Und bei älteren Menschen?

Hillemacher: Altersdepressionen nehmen auf jeden Fall zu – und wenn es nur daran liegt, dass sie heute besser erkannt werden, ist das unbedingt auch ein Fortschritt. Unabhängig von Corona macht vielen der Wegfall familiärer Bindungen und eben eine zunehmende Vereinsamung zu schaffen – und das bei tendenziell längerer Lebensdauer.

Hilfen als Baukastensystem

Wie sehen heute die Behandlungsmöglichkeiten aus? Dominiert die Verschreibung von Medikamenten? Oder soll ich als Patient unbedingt auf eine Psychotherapie drängen?

Hillemacher: Die Patienten sind so unterschiedlich, dass es kaum generelle Empfehlungen geben kann. Aber eins ist mir wichtig: Die medikamentöse Therapie und die Psychotherapie – samt der Soziotherapie mit der Einbeziehung des Umfelds – werden oft als Gegensätze dargestellt. Das halte ich für fatal. Vielmehr ergänzen sich die Ansätze. Häufig, vor allem in schweren Fällen, sorgen Arzneien erst einmal für eine nötige Stabilisierung, ohne die eine Psychotherapie gar nicht möglich wäre. Zumal die für die Betroffenen auch echt anstrengend sein kann. Ich sehe das als Baukastensystem: Welches Verfahren am besten passt, muss im Einzelfall entschieden oder auch ausprobiert werden. Und zu den ärztlichen Therapieansätzen kommen noch beispielsweise Ergo-, Kunst-, Musik- und Sporttherapie.

Woran forschen Sie aktuell?

Hillemacher: Wir sind an verschiedenen Studien beteiligt, zum Beispiel im Bereich der Schlafforschung und der sogenannten Wochenbett-Depression. Und in einem Projekt mit der Friedrich-Alexander-Universität loten wir den Einsatz und die Wirkung von neuen Medien aus - speziell von Apps, die eine Behandlung mit zusätzlichen Inhalten unterstützen, vor allem in den oft längeren Zeiten zwischen Therapieterminen.

Menschen, die an Depressionen oder Suizidgedanken leiden, sind nicht allein. Betroffene erhalten zum Beispiel bei der Telefonseelsorge schnelle und niederschwellige Hilfe. Die Nummer 0800 111 0 111 ist rund um die Uhr besetzt, die Beratung ist kostenfrei und anonym. Auch der Krisendienst Mittelfranken ist 24 Stunden am Tag unter 0800 655 3000 oder 0911 42 48 55 0 erreichbar. Beratungen können auch Online oder vor Ort erfolgen.