"Vulnerable Gruppe"
Kinder gefährdet? 1000 künftige Erstklässler warten noch auf ihre Vorsorgeuntersuchung
14.07.2021, 14:13 Uhr
Das Gesundheitsamt hatte in diesem Jahr beschlossen, sich bei den Schuleingangsuntersuchungen vor allem auf die Kinder zu konzentrieren, die überhaupt keinen oder keinen festen Kinderarzt haben. Doch noch immer sind rund 1000 Mädchen und Jungen nicht an die Reihe gekommen.
Bei den künftigen Erstklässlern soll darauf geschaut werden, ob sie möglicherweise eine Behinderung haben, ob sie beeinträchtigt oder in ihrer Entwicklung verzögert sind. Die Krankenschwester, der Arzt oder die Ärztin, die beim Gesundheitsamt das Kind untersuchen, erklären dann den Eltern, welche Fördermaßnahmen es gibt und welche Schule am geeignetsten ist. Und: „Eine Grundidee der Schuleingangsuntersuchungen ist auch die Früherkennung möglicher Kindswohlgefährdung“, betont Philipp Bornschlegl, der stellvertretende Leiter des Gesundheitsamts.
Quarantäne statt Sehtest
Diese wichtige Aufgabe hat die Corona-Bekämpfung abrupt ausgebremst. Statt Kinder auf einem Bein hüpfen zu lassen und zu prüfen, ob sie eine rote Zahl vor einem grünem Hintergrund sehen können, haben die Mitarbeiter während der ersten und der zweiten Welle infizierte Bürger und Kontaktpersonen, die sich in Quarantäne befanden, telefonisch betreut. Verschärfend kommt hinzu, dass es in Nürnberg immer mehr angehende Schüler gibt. Waren es im Jahr 2010 noch 4078 Kinder pro Schuljahr, kletterte diese Zahl bis 2021 auf 4911 – das sind 20 Prozent mehr Mädchen und Jungen, die vor der Einschulung vom Gesundheitsamt untersucht werden müssen. Eigentlich.
Nürnberger Eltern entscheiden sich erstmals mehrheitlich gegen Einschulung
Weil das heuer nicht zu schaffen war, beschlossen Bornschlegl und seine Mitarbeiter, sich auf die „vulnerable Gruppe“ zu konzentrieren: Kinder, die keinen Kinderarzt haben. Aufgespürt werden sie, indem das Gesundheitsamt von allen Eltern künftiger Erstklässler den Nachweis der U9 anfordert. Das ist eine gesetzlich verpflichtende Vorsorgeuntersuchung, die der Kinderarzt normalerweise bei allen Fünfjährigen macht. Sein Ziel ist es, die bisherige Entwicklung zu überprüfen. Fehlt die U9, kann das ein Hinweis darauf sein, dass das Kind bei keinem Kinderarzt in der Patientenkartei ist.
Manche Eltern haben diese Untersuchung zwar nur vergessen und holen sie noch nach. Aber das Gesundheitsamt schätzt, dass 50 bis 60 Prozent der Kinder ohne U9 zur „vulnerablen Gruppe“ gehören: Diese angehenden Schulkinder sind in ihrem Wohl gefährdet, weil sie vermutlich nicht erst jetzt, sondern schon seit langem nicht mehr bei einem Arzt waren.
Arbeit für das Jugendamt
In Corona-Zeiten nutzt das Gesundheitsamt das Fehlen der U9 als Auswahlkriterium, um überhaupt eine Schuleingangsuntersuchung durchzuführen. Nach Angaben des Jugendamts gibt es jedem Jahr etwa 300 bis 400 Fälle, in denen die Eltern die so wichtige U9 auch nach einer zweiten Aufforderung nicht nachreichen. Manchmal zeigt sich sogar: Diesen Mädchen und Jungen fehlt nicht nur ein Kinderarzt, sie besuchen auch keinen Kindergarten, weiß Jürgen Münderlein, Abteilungsleiter beim Jugendamt.
„Es gibt da eine ganz große Bandbreite an Gründen, weshalb die da nicht hingehen“, sagt Münderlein. Dazu gehören beispielsweise Eltern, die ihren Nachwuchs selbst betreuen. „Manche waren in der Corona-Krise auch zurückhaltend mit dem Kita-Besuch und manche hatten es in der Vergangenheit nicht hingekriegt, den Sohn oder die Tochter bei einem Kindergarten anzumelden.“ Münderlein spricht von wenigen Fällen, in ganz Nürnberg seien es keine 100.
Keine Vollversorgung mehr
Auch das Jugendamt spürt den starken Zuzug in die Stadt, „vor allem aus dem europäischen Ausland“, so Münderlein. Das führt dazu, dass Nürnberg im Kindergarten-Bereich keine Vollversorgung mehr hat. Dafür müssten nämlich Plätze für mindestens 95 Prozent der Kinder vorhanden sein, nach neuesten Zahlen beträgt die Quote 93 Prozent (Stand Dezember 2020). Folglich ist ein Kindergartenplatz nicht selbstverständlich, die Eltern müssen sich aktiv um einen bemühen.
Philipp Bornschlegl ist zuversichtlich, dass das Gesundheitsamt es schafft, die rund 1000 Mädchen und Jungen ohne U9 unter die Lupe zu nehmen und so den besonders gefährdeten Kindern auf die Spur zu kommen – „bis Oktober“. In normalen Jahren sind die Schuleingangsuntersuchungen bis Mai abgeschlossen.
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