Erlanger Experte übt Kritik an WHO

Wirbel um radikal verschärfte Luft-Richtwerte: Drohen nun Fahrverbote?

5.10.2021, 05:55 Uhr
Wie schädlich ist Stickstoffdioxid aus dem Auspuff wirklich? Ein Erlanger Experte meint, das Reizgas könne in geringerer Konzentration schnell vom Körper abgebaut werden.

© imago images/Christian Ohde Wie schädlich ist Stickstoffdioxid aus dem Auspuff wirklich? Ein Erlanger Experte meint, das Reizgas könne in geringerer Konzentration schnell vom Körper abgebaut werden.

Dreimal so viele Menschen wie sonst starben während der Londoner Smog-Krise im Dezember 1952. Bis zu 12.000 Londoner sollen die extreme Luftverschmutzung mit ihrem Leben bezahlt haben, vor allem bei Älteren, kleinen Kindern und Kranken versagten Lunge und Herz angesichts der enormen Belastung mit Schwefeldioxid gleich massenhaft.

Nur 30 Zentimeter Sichtweite

Der Smog war so undurchdringlich, dass man oft nicht mal mehr in Innenräumen von einer Wand zur anderen blicken konnte, Kino- und Theatervorstellungen wurden so unmöglich. Außen konnte man teilweise nur noch 30 Zentimeter weit sehen.

Im Dezember 1962 suchte eine ähnliche Smog-Katastrophe das Ruhrgebiet heim, 20 Prozent mehr Menschen als sonst starben in diesen Tagen.

Heute sind solche Extremszenarien hierzulande nahezu undenkbar. Grenzwerte für Schwefeldioxid und Kohlenstoffmonoxid werden zuverlässig eingehalten, auch die Belastung mit Stickstoffdioxid (NO2) und Feinstaub ist seit vielen Jahre rückläufig.

Luft in Nürnberg deutlich besser geworden

„In den letzten Jahrzehnten hat sich die Luftqualität in Nürnberg signifikant verbessert. Die Luftschadstoffkonzentrationen weisen sinkende Tendenzen auf. Alle aktuellen Grenzwerte werden eingehalten, gerade beim Feinstaub, der beim Atmen tief in die Lunge eindringen kann und gesundheitlich besonders relevant ist“, betont Nürnbergs Gesundheitsreferentin Britta Walthelm. Selbst in der vielbefahrenen Von-der-Tann-Straße blieb der NO2-Jahresmittelwert im vergangenen Jahr mit 36 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft unter der magischen Grenze von 40 Mikrogramm.

Kaum hat man es jedoch mit weitreichenden Maßnahmen geschafft, den Grenzwert von 40 Mikrogramm gerade so einzuhalten, könnten die Daumenschrauben gehörig angezogen werden. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt in ihren neuen Leitlinien zur Luftqualität, künftig nur noch zehn Mikrogramm zuzulassen.

Sollte diese Empfehlung hierzulande zum Grenzwert werden, hätten das weitreichende Folgen. Laut Umweltbundesamt würden dann an 83 Prozent aller Messstationen in Deutschland die NO2-Werte überschritten werden, darunter auch diejenigen in Nürnberg. Sogar etliche ländliche Stationen würden darüber liegen. Bei den ebenfalls neu empfohlenen Werten für Feinstaub der Partikelgröße PM2,5 könnte sogar an 99 Prozent der Stationen der WHO-Schwellenwert nicht eingehalten werden.

Sieben Millionen Tote durch Luftverschmutzung

Ihre zuletzt 2005 aktualisierten Richtwerte hat die WHO verschärft, weil Studien gezeigt haben, wie stark die Gesundheit unter Luftverschmutzung leidet. Etwa sieben Millionen Menschen weltweit würden dadurch frühzeitig sterben, bei Kindern könnte das Lungenwachstum gestört werden, es könnten verstärkt Asthma-Symptome auftreten.

„Aus fachlicher Sicht ist eine weitere Reduzierung der Luftschadstoffe angebracht“, meint Walthelm. Wichtig sei dabei vor allem der Verzicht auf fossile Brennstoffe, insbesondere im Verkehr. Durch den Nürnberger Mobilitätsbeschluss wird deshalb versucht, die Menschen zum Umsteigen auf Busse, Bahnen und Fahrrad zu bewegen.

Die WHO-Empfehlungen sind erst mal nur Empfehlungen. Unmittelbar drohen also noch keine Fahrverbote oder ähnlich drakonische Maßnahmen. Allerdings ist nun die EU unter Zugzwang, ihre Grenzwerte zu überprüfen, das Europäische Parlament hat dies bereits gefordert. Bei NO2 folgte die EU bislang der Empfehlung der WHO. Beim Feinstaub hingegen war sie weniger streng und lag mit ihren Grenzwerten, je nach Partikelgröße, teils deutlich über der WHO-Empfehlung.

Erlangen: Einbahnstraße führt zu besserer Luft

„Aus unserer Sicht ist es nicht sinnvoll, die WHO-Schwellenwerte direkt als Grenzwerte zu übernehmen. Eine Prüfung durch die EU, inwieweit eine Verschärfung der Grenzwerte im Sinne der ebenfalls formulierten Zwischenziele sinnvoll und möglich ist, befürworten wir hingegen“, meint Reiner Lennemann, Leiter des Amtes für Umweltschutz und Energiefragen. Er ist überzeugt, dass die Verkehrswende und schärfere Vorgaben für die Industrie die Luft weiter verbessern.

Wie weniger Verkehr zu besserer Luft führt, ließ sich zuletzt in der Neuen Straße in Erlangen beobachten. Die dicht bebaute und zuvor stark belastete Straße wurde in eine „unechte“ Einbahnstraße umgewandelt. In eine Richtung darf sie nur noch von Rettungsfahrzeugen, Bussen, Radfahrern, privaten Notfallfahrten und Lieferverkehr zu den Uni-Kliniken genutzt werden. Dadurch habe sich die Luft verbessert, wie Lennemann sagt.

Bei der Luftmessstation des Landesamtes für Umwelt in der Erlanger Kraepelinstraße haben sich zudem in den vergangenen drei Jahren die Werte für Stickstoffdioxid und Ozon kontinuierlich verbessert. „Dies führen wir auf die umgesetzten Maßnahmen des Luftreinhalteplans des Ballungsraums Nürnberg-Fürth-Erlangen, wie auch den fortgeschriebenen Luftreinhalteplänen der Stadt Nürnberg zurück“, meint Lennemann.

Wie schädlich ist NO2 wirklich?

Hans Drexler, Professor für Arbeits- und Sozialmedizin an der Universität Erlangen-Nürnberg, fragt sich angesichts der extrem verschärften WHO-Richtwerte allerdings, wie sicher man sich wirklich sei, dass bei diesen Werten wirklich schon gesundheitliche Schäden die Folge sind.

Drexler war auch an der Stellungnahme der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften, aus dem Jahr 2019 beteiligt, die auf Bitte von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erarbeitet worden war. Darin teilen die Experten die Meinung, dass Feinstaub die Gesundheit weitaus stärker belastet als Stickstoffdioxid. „NO2 ist sehr kurzlebig. Das ist ein Reizgas, das im menschlichen Körper innerhalb von Millisekunden abgebaut wird“, erklärt Drexler.

Erst in extremen Konzentrationen seien schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen zu erwarten. Nicht umsonst liegt der NO2-Grenzwert am Arbeitsplatz bei 950 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft – im Vergleich zu nur 40 Mikrogramm an der Außenluft. Die Grenzwerte basieren auf Versuchen an Ratten. Inhalationsversuche mit den Tieren zeigten toxische Auswirkungen erst ab etwa 9500 Mikrogramm.

An Straßen macht auch der Lärm krank

Auch wenn eine geringere Luftverschmutzung natürlich prinzipiell immer zu begrüßen sei, bezweifelt Drexler, ob eine Absenkung des NO2-Grenzwertes auf zehn Mikrogramm wirklich so viel zusätzlichen Nutzen bringt.

„Aus den stark belasteten Metropolen in Südostasien oder Afrika hat man gesicherte Erkenntnisse wie schädlich Luftverschmutzung ist. Die Frage ist nur: Wie weit kann man das nach unten extrapolieren? Wie lange kann man sich sicher sein, dass man gesundheitliche Auswirkungen den richtigen Ursachen zuschreibt“, fragt sich Drexler.

Um zu untersuchen, welche Auswirkungen etwa das Leben an eng bebauten, städtischen Hauptverkehrsstraßen hat, wird der Gesundheitszustand der Anwohner untersucht. Das Problem dabei: Nicht nur die Schadstoffe machen dort krank, sondern vor allem auch der Lärm, der selbst nachts nie ganz aufhört.

Außerdem zeigen sich an solchen Straßen eben auch sozioökonomische Unterschiede. Dort leben tendenziell mehr Menschen, die übergewichtig sind, rauchen oder sich schlecht ernähren. „Diese Faktoren kann man nie ganz exakt rausrechnen“, erläutert Drexler.

Grenzwert für Ultrafeinstaub fehlt

Für viel schwerwiegender als die NO2-Belastung hält er die Feinstaub-Problematik. „Das sind Partikel, die der Körper aufnimmt, die er aber nicht verdauen kann. Dadurch entsteht oxidativer Stress. Darüber würde ich mir viel mehr Sorgen machen als um ein flüchtiges Reizgas wie NO2“, verdeutlicht Drexler.

Der Arbeitsmediziner forscht besonders im Bereich des Ultrafeinstaubs, also von Partikeln die kleiner als 0,1 Mikrometer sind. Sie machen zwar nur ein Prozent der gesamten Feinstaub-Masse aus, aber 70 Prozent der Partikel-Anzahl. Weil sie bislang eine noch weitgehend unerforschte Größe sind, gibt es für sie keinen Grenzwert. „Das muss sich dringend ändern“, meint Drexler.

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