Seit 50 Jahren in Deutschland
Einst Türke, heute echter Franke: Ich hab´ damals nie sowas wie "Kanake" gehört
02.02.2022, 14:03 Uhr
Unsere letzte Begegnung ist Jahrzehnte her. In meiner Erinnerung ist Mehmet der Junge, der uns auf dem Platz vor dem Haus meiner Großeltern seine famosen Flickflack-Künste vorführte. Wir Dorfkinder waren damals schwer beeindruckt. Mehmet Yavuz kam aus der Türkei. Er war eines der ersten Gastarbeiter-Kinder in unserem Ort.
Erst 50 Jahre nach den legendären Flickflack-Vorführungen begegnen wir uns wieder. Hintergrund ist neben dem 60. Jahrestag des Anwerbe-Abkommens zwischen der Türkei und Deutschland im Oktober 2021 vor allem Mehmets ganz eigenes Jubiläum: Der Vater von drei erwachsenen Kindern – Basti und die Zwillinge Lena und Hannes – hat in Franken Wurzeln geschlagen und feiert heuer 50 Jahre Deutschland. Es gibt eine Menge zu erzählen.
Auf der Baustelle
Wir treffen uns in dem kleinen Ort am Rand des Landkreises Ansbach, wo der heute 58-Jährige gemeinsam mit Basti (23) gerade ein kleines Haus renoviert. Die beiden Männer wohnen auf der Baustelle. Mehmet schimpft über den Putz, der nicht halten will, doch das Wohnzimmer ist schon gemütlich eingerichtet, der Holzofen bullert, an den Fenstern hängen halbhohe Gardinen, Mehmet serviert von der niedersächsischen Lebensgefährtin gebackenen Stollen und Tee.
Dass es keine fünf Minuten dauert, bis wir uns nach einem halben Jahrhundert wieder warmgeredet haben, liegt vor allem am Hausherrn und seiner aufgeschlossenen Art. An den Flickflack kann er sich nur noch dunkel erinnern. Lachend blickt Mehmet auf seinen Bauch, über den sich ein Promo-Shirt der Metal-Band Iron Maiden spannt: „Das würde heute nicht mehr funktionieren“, sagt er mit fränkischem Zungenschlag.
Und kommt gleich auf den Punkt. „Wenn mich einer wegen meines Namens auf meine Sprachkenntnisse anspricht, sag ich immer: Ich kann kein Deutsch, nur Fränkisch.“ Irgendwo zwischen Spaß und Ernsthaftigkeit bedauert er seine Freundin und mit ihr alle Niedersachsen, denn „die Armen haben keinen richtigen Dialekt, da ist gar kein Herz und keine Heimat in der Sprache, wir Franken dagegen verniedlichen ja gern, sagen zum Beispiel ,a bisserla’“.
Mehmet blieb
Den Dialekt habe er als Kind von uns Kindern gelernt, damals als sein Vater die Familie aus Tekirdağ bei Istanbul nachholte und Mehmet mit acht Jahren in Roßtal im Landkreis Fürth landete, direkt gegenüber vom Pfarrhaus. Für den baldigen Umzug zu uns an den Platz schenkte der benachbarte Bauer den Yavuz’ „a Ladderwächerla“.
Insgesamt rund 900 000 Türken waren im Zuge der Anwerbung nach Deutschland gekommen, eine halbe Million kehrte irgendwann zurück. Auch Mehmets Eltern. Mehmet blieb.
Spielerische Integration
Anfang der 1970er Jahre hätten er, seine fünf Geschwister und die Eltern keine Ausgrenzung gespürt. „Ich hab nie sowas wie ,Kanake’ oder ,hey, du Türke’ gehört’“, sagt der gelernte Konstrukteur heute, „und keine Ausländerfeindlichkeit kennengelernt“.
Im Gegenteil. Bei der Pfarrersfamilie gegenüber gab es nicht nur Kuchen, sondern auch spielerischen Deutsch-Unterricht. „Als Kind war ich ja relativ unbeleckt und konnte die deutsche Kultur aufsaugen wie ein Schwamm“, sagt Mehmet.
Durchs Fußballspielen war der Kontakt zu den jungen Roßtalern schnell geknüpft. Das mit der Integration sei dann „einfach passiert“: „Ich hab’s nicht mitgekriegt“, erklärt Mehmet. Schier unglaublich angesichts des immensen Stellenwerts, den der Begriff inzwischen einnimmt. Mehmet hat eine Erklärung dafür: „Heute ist die Masse da, damals waren wir auf dem Dorf ja nur wenige.“
Spagat zwischen den Kulturen
Die Probleme überrollten den pfiffigen Jungen von der anderen Seite: Ab der dritte Klasse schickte ihn sein Vater an den Nachmittagen nach Schweinau in die türkische Schule – auf dass er seine Wurzeln und Sprache nicht vergesse. „Da brach für mich eine Welt zusammen, und die Noten an der deutschen Grundschule wurden immer schlechter.“ So beendete der Spagat zwischen den Kulturen den Traum vom Abi.
Dass er „Ausländer“ war, spürte Mehmet zum ersten Mal mit knapp 20, als er in Nürnberg eine Lehre als Stahlformenbauer begann – erst bei der Jobsuche, dann in der Berufsschule. Aber auch in der Disko. „Dort haben sich türkische, italienische oder jugoslawische Cliquen gebildet, und du musstest dich orientieren, wo du hingehörst.“ Mehmet fühlte sich bei seinen Fußball-Freunden wohler, zu türkischen Landsleuten hatte er kaum Kontakt.
"Yavuz wie Servus"
Gleichwohl sei da ein Verständnis für die Gastarbeiter, die sich damals in entsprechenden Gruppen trafen: „Das haben deutsche Auswanderer in den USA oder anderswo ja auch getan“, betont der Mann, dessen türkischer Name noch heute oft dafür sorgt, dass er seine Herkunft erklären muss.
Mehmet nimmt es auf seine Art - mit Humor: „Yavuz wie Servus“, sagt er dann gern und bricht damit oft genug das Eis.
Dennoch würden ihn manche seiner Mitmenschen sichtlich gern in eine Schublade stecken: „Manchmal merkt man förmlich, wie die Rädchen im Kopf rattern, vielleicht suchen sie in mir irgendwo den anatolischen Bergbauern oder ein anderes Klischee.“ Und finden es doch nicht.
Die Türkei hat Mehmet in jungen Jahren mit dem Motorrad durchquert. Und festgestellt, dass im Inneren des Landes „die liebsten Menschen der Welt“ leben“. Diese Einheimischen seien ihm mit viel Toleranz begegnet. „Toleranz – das ist ein großes Wort“, überlegt der Mann mit deutschem Pass. Ihm fällt dazu der viel zitierte Begriff „Heimat“ ein.
„Heimat ist da, wo ich mich wohlfühle“, sagt Mehmet. Dazu gehöre, von anderen offen aufgenommen zu werden. „Ich toleriere sie, und sie tolerieren mich. Wenn alle an den Rändern durchlässig sind, kann man wunderschön zusammenleben“, meint er und ergänzt: „Aber selbst den größten Widersacher kannst du herunterdimmen, wenn du ihn umarmst.“
Rassismus im Alltag
Mehmet sagt das nicht umsonst. Auch heute noch ist er hin und wieder mit frappierend offenem Alltagsrassismus konfrontiert, den er mit seiner direkten Art pariert. Dass inzwischen die dritte und vierte Generation der Einwanderer in Deutschland geboren wurde und laut Statistischem Bundesamt all diejenigen als Deutsche ohne Migrationshintergrund gelten, die – wie ihre Eltern – von Geburt an die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, scheint noch nicht in der Gesamtheit der Gesellschaft angekommen zu sein.
Insgesamt hat es Deutschland Einwanderern nie so leicht gemacht wie etwa die USA. Andererseits sieht Mehmet hier durchaus auch Menschen mit ausländischen Wurzeln, die sich ihrem aktuellen Lebensumfeld selbst nach Jahrzehnten nicht öffnen: „Sie kultivieren in der Ferne untereinander oft die alte Heimat, haben aber mitunter ein Bild davon im Kopf, das unvollständig ist oder veraltet.“ Wer jedoch die Kultur, die ihn umgibt, nicht akzeptieren könne oder wolle, der bleibe Ausländer – und das habe natürlich Folgen für die Identität.
Kuchen am Sonntagnachmittag
Wieder so ein Stichwort, über das man diskutieren könnte, doch der Gastgeber muss ja noch die Wand fertig verputzen. Bleibt noch eine Frage: Was ist typisch deutsch? „Kaffee und Kuchen am Sonntagnachmittag“, fällt Mehmet prompt ein. Das war’s dann aber schon mit deutschen Klischees.
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